Ich schnappte mir eine Gala und blätterte sie von hinten nach vorne durch. Das machte sie nicht interessanter. Im Grunde unterschieden sich die Zeitschriften nur in ihren Titelbilder: auf der ersten war JLo oder ihr Hintern das Hauptmotiv, auf der zweiten Prinzessin Maxima und ihre Eheprobleme. Auf der dritten war Maxima der Zeitschrift nur eine Randnotiz mit winzigem Foto wert, weil die Hochzeit von irgendeinem It-Girl aus der dritten Reihe die Frauen von heute am meisten interessierte. Aber spätestens beim Durchblättern der Heftchen fand man sie alle wieder. Und noch eins war ihnen gemeinsam: Offensichtlich gehörte es zum guten Ton, niemals aktuelle Hefte auszulegen. Allesamt waren gut drei Monate gereift. Gut Ding will Weile haben, das hatte ich bei meinem Trip hier schon gelernt.
„Herr Schiller?“
„Ja?“ Die Frau im grünen Kittel meinte mich.
„Ihre Frau ist jetzt fertig. Wir werden sie auf die Intensivstation fahren.“
„Auf die Intensivstation? Wie geht es ihr?“
„Wir haben sie erst einmal schlafen gelegt. Sie hat Schmerzmittel bekommen. Ich kann dazu nichts sagen. Aber wenn Sie Pfleger Michael begleiten möchten, der fährt sie jetzt nach oben. Die Intensivstation ist im fünften Stock. Herr Doktor Müller wird mit Ihnen reden.“
Ich nickte nur.
„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus.“ Frau Grünkittel schaute besorgt drein.
„Kann ich etwas trinken?“
„Natürlich.“ Sie verschwand hinter der Glaswand, hinter der sich die Anmeldung verbarg, und kam kurz darauf mit einem Glas Wasser wieder.
Ich kippte das Wasser hinunter und bedankte mich, als vermutlich Pfleger Michael mit einem Bett auf mich zurollte. Nora. Das war meine Nora.
Da lag sie, die Augen immernoch geschlossen. Stocksteif lag sie auf diesem sterilen Bett. Um den Kopf hatte man ihr einen Verband angelegt, der ihre schönen, blonden Haare bedeckte. Nora sah ganz friedlich aus, aber die Sterilität des Krankenhauses wollte nicht mehr zu Dornröschen passen. Ich hielt ihre Hand, während ich versuchte, mit Pfleger Michael Schritt zu halten. Ihre Hand war warm. Und ich war so froh, dass sie warm war.
„Wie sieht es aus? Was glauben Sie?“
Ich flehte den Pfleger an. Vielleicht traute er sich, mir wenigstens eine kleine Auskunft zu geben. Nur eine kleine. Das konnte doch nicht verboten sein. Aber er sagte nichts. Nichts jedenfalls, das mir weitergeholfen hätte. „Warten Sie es ab“, sagte er. „Man kann noch nicht sagen, wie es sich entwickelt. Aber beruhigen Sie sich. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht!“ Mitfühlend strich er mir über die Schulter.
Diese Worte hatte ich heute schon einmal gehört. Ziemlich genau derselbe Wortlaut. Ich war nicht fähig, die Floskeln zu deuten, die die Leute hier benutzten. Mir war nur klar, dass es nicht für eine gute Nachricht sprechen konnte, wenn man mir die Auskunft verweigerte. Das beunruhigte mich mehr als alles, was mir bisher durch den Kopf gegangen war.
Samstag, 18. September, Friedericus
Lena war wie ausgewechselt.
Vielleicht lag ihre Ausgelassenheit am Wein oder am lauen Spätsommerabend. Laue Spätsommerabende waren wie geschaffen dafür, mit wiedergewonnenen Freunden über alte Zeiten zu tratschen und auf einem Aussichtspunkt mit einer Flasche Wein in trauter Zweisamkeit den Sonnenuntergang zu bewundern. Und verloren geglaubte romantische Gefühle wiederzuentdecken. Gelegenheit machte Liebe.
Aussichtspunkt war das Hambacher Schloss. Bei der Wiege der deutschen Demokratie konnte man den Blick wunderbar über die Rheinebene schweifen lassen.
„Weißt du, wie lange ich schon nicht mehr hier oben war?“ Lena schlang die Arme um ihren Körper während ihr Blick irgendwo in der Ferne ruhte. Es war kühl geworden. Ein seichter Wind der Geschichte wehte um das Schloss. Zwanzig Uhr vorbei, die Sonne verabschiedete sich langsam. Lena hatte nur eine dünne Seidenbluse dabei, die sie gegen die anziehenden Temperaturen nicht wirklich schützen konnte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so spät werden würde. Es war ein unverbindliches Gespräch unter ehemaligen Bekannten gewesen. Ein bisschen Klatsch über gemeinsame Schulfreunde, ein bisschen Smalltalk über den Beruf, ein bisschen Belanglosigkeit von allem. Und dann wäre sie wieder nach Hause gefahren. So hatte sie sich das vorgestellt. Und jetzt befand sie sich mit Aaron auf dem Schloss. Mit Aaron, dem Unsichtbaren. Mit Aaron, dem Langweiler. Damals. Wie konnte man sich doch täuschen.
„Nein, weiß ich nicht.“
„Seit unserem Ausflug in der elften Klasse. Erinnerst du dich?“
Aaron erinnerte sich. Natürlich. Das war einer der Klassenausflüge, bei denen er vergeblich um Lenas Aufmerksamkeit buhlte.
„Seither nicht mehr?“
„Nein. Warum auch?“
„Ich weiß nicht. In einem Anfall von Vaterlandsliebe, zum Beispiel. Oder einfach so. Weil’s schön ist.“
Lena lachte. „Du warst also schon öfter hier oben?“
„Manchmal.“
„Der Vaterlandsliebe wegen?“
„Nein.“
„Sondern?“
„Verrat ich dir nicht.“
Lena blickte ins Leere. Ihre Gedanken waren so weit über die Ebene verstreut wie die Dörfer, die unter ihnen lagen. Aaron stand hinter ihr. Wie konnte er sie so durcheinander bringen!
„Bitte, verrate es mir. Bitte!“ Lena drehte sich um und fixierte Aaron mit einem Blick, der mehr erwartete. Meinte sie wirklich, was
er daraus zu lesen glaubte? Hatte er es richtig gedeutet? Aaron war so nah dran. Noch nicht mal als Julia hatte sie ihn so angesehen. Aarons Hand zuckte, er hätte sie gerne um ihre Schultern gelegt, aber seine Angst war stärker. Die Angst, wieder einmal abgewiesen zu werden.
„Okay, dann will ich es gar nicht wissen. Aber es ist schön hier.“ Seufzend zog Lena ihre Schultern hoch. Aaron verstand nicht. Der Wind war kalt und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Vielleicht war es der Wind. Sie versuchte sich zu entspannen.
„Was wirst du jetzt tun?“
Lena verstand nicht. „Was meinst Du?“
„Mit Rüdiger, meine ich.“
Der Hauch von Romantik, der über dem Schloss lag, war mit diesem einen Wort wie weggeblasen. Rüdiger!
„Abwarten und Tee trinken, schätze ich. Unsere Anwälte kommunizieren momentan mehr miteinander als wir es das letzte halbe Jahr getan haben. Ich hoffe, dass die das so schnell wie möglich über die Bühne bringen.“
„Über die Bühne bringen… was heißt das für dich? Liebst du Rüdiger noch?“
Lena schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt einmal geliebt habe. Das ist das Tragische. Es ist traurig, wenn man vor den Scherben steht, die man hätte vermeiden können.“
„Fehler macht man manchmal.“
„Schon. Aber in meinem Fall muss nicht nur ich sie ausbaden. Ich denke an meine Kinder. Es ist nicht schön, dass sie das mitmachen müssen.“
„Nein. Sicher nicht. Aber du solltest dir nicht alleine die Vorwürfe machen.“
Lena zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor Traurigkeit. Und Aaron kämpfte gegen die Windmühlen in seinem Kopf. Es war nicht unmöglich. Das nicht. Wenn er es nur schaffte, seinen Zweifel zu überwinden, dann würde er jetzt endlich seine Arme sachte um Lenas Schultern legen.
„Du hast es gut.“ Lena zog die Nase hoch. „Du hast dein Leben noch nicht verkorkst. Du hast alle Möglichkeiten der Welt. Ich hab ein scheiß Leben!“ So hätte es jetzt nicht enden sollen. Nicht in einem dämlichen, unnötigen Gefühlsausbruch. Nicht in einem peinlichen Auftritt. Sie wollte doch nicht weinen, sie wollte stark sein. Sie wollte einen schönen Abend verbringen. „Scheiß Leben!“ Jetzt war es auch schon egal.
Aarons Kopf war leer. Seine Arme legten sich plötzlich wie von alleine um Lenas Schultern. Er konnte gar nichts dafür, es passierte einfach. Manchmal war es gut, dass etwas einfach passierte.
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