»Ach, das wird schon«, sagte Leslie und nahm Jill in den Arm.
»Ich glaube so langsam nicht mehr daran, dass sich meine Mutter ändern wird. An manchen Tagen würde ich sie am liebsten umbringen. Vielleicht treibt sie mich ja irgendwann wirklich so weit. Wer weiß?«, gab sie zurück.
»Sag so was nicht. Sie ist doch deine Mutter.«
»Ja und?«
»Irgendwann wird sie schon merken, dass du kein kleines Kind mehr bist«, sagte Leslie.
»Das hoffe ich sehr.«
Ein paar Minuten standen sie alle einfach still da und schwiegen. Ab und zu nippte einer an seinem Bier. Leslie knibbelte das Etikett von ihrer Flasche ab. Eine dumme Angewohnheit, die sie schon ihr halbes Leben lang hatte. Nicht bei Bierflaschen, dafür war sie noch zu jung. Doch bei jeder Flasche, die ein Etikett hatte, musste sie einfach piddeln.
»Wo wart ihr denn so lange?«, fragte Oliver, als Ben mit Caroline auftauchte.
»Wir waren noch mit du-weißt-schon-was beschäftigt«, sagte Ben großkotzig und zwinkerte.
»Bier?«, fragte Oliver knapp aber höflich. Er saß immer noch neben dem Kasten und umarmte und tätschelte diesen wie einen Freund.
»Ja klar! Was für eine Frage. Her damit!«, antwortete Ben.
»Nein danke, für mich heute nicht, Oliver«, nuschelte Caroline betreten.
»Was sind das denn für Sitten? Für sie gibt es natürlich auch Bier!«, sagte Ben und klopfte seiner Freundin etwas zu fest auf die Schulter, sodass sie unfreiwillig einen Schritt nach vorne machen musste.
Caroline nahm widerwillig das Bier und trank mit allen. Sie versuchte, sich im Kopf alles kleinzureden, doch einmal ist keinmal gilt bei einer Schwangerschaft nicht.
Nach einer halben Stunde war der Alkoholgehalt im Blut der Clique ganz schön gestiegen, vor allem, da jede Flasche einen halben Liter Bier enthielt.
»Und was machen wir nun?«, fragte Oliver. Er merkte, dass sich alle langweilten. Die Zeitspanne des Redens wurde immer kürzer. Stattdessen hatten sie sich die letzten Minuten fast nur angeschwiegen. Nun saßen sie da und wussten nichts mit ihrer freien Zeit anzufangen. Es waren Ferien, das Wetter meinte es gut mit ihnen. Wie kann man da herumsitzen und keinen Plan haben? Vor allem als Jugendliche?
Ben, der Älteste der Gruppe, flüsterte seiner Freundin Caroline etwas ins Ohr. Er hatte dabei einen Arm um sie gelegt. »Wir könnten ja hoch zur alten Mühle, besser gesagt zur Spukruine auf den Berg, gehen. Das wäre doch mal was! Was haltet ihr davon?«, fragte er dann etwas lauter in die Runde.
Caroline grinste ihn an und nickte. Naiv wie sie war, tat sie alles, was er vorschlug, ohne darüber nachzudenken. Doch sie wusste noch nicht, was für ein großer Fehler das sein würde, ihm wie ein treues Hündchen zu gehorchen.
Leslie hingegen sah ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Bist du wahnsinnig geworden? Das ist total gefährlich. Da sollen angeblich schon Leute gestorben sein, sagt meine Oma. Und da wurde letztens erst eine Frau vergewaltigt. Die Täter haben sie immer noch nicht gefunden.« Leslie schüttelte den Kopf. »Du tickst wohl nicht mehr ganz richtig! Ich werde auf gar keinen Fall mitkommen!«, sagte sie.
Ben war das von vornherein schon klar gewesen, denn um alles, was gefährlich, gruselig oder verboten war, machte Leslie einen Bogen. Man könnte sie auch als den ängstlichen Moralapostel der Clique bezeichnen. Ben war der neugierige Rabauke. Ihn konnte zwar keiner wirklich leiden, doch sie duldeten ihn Caroline zuliebe. Blieben noch Jill und Oliver übrig.
Jill verneinte ebenfalls mit einem Kopfschütteln. »Tut mir leid, Leute, ich wäre gerne mitgekommen. Normalerweise lasse ich mir so ein Abenteuer doch nicht entgehen. Aber ich kann nicht. Ich muss in fünf Minuten zu Hause sein. Hab es meiner Mutter versprochen. Ihr wisst doch noch, wie viel Ärger es das letzte Mal gab, als ich nur ein paar Minuten zu spät war.« Niedergeschlagen ließ sie ihren Kopf hängen. Diese Übervorsichtigkeit ihrer Mutter nervte sie gewaltig. Es war zum Heulen, was sie auch oft insgeheim tat. Doch niemals vor ihren Freunden. Höchstens einmal, wenn sie mit Leslie alleine war, aber bei jedem anderen wäre es eine Katastrophe gewesen. Weinen zeigte Schwäche, und schwache Leute waren in der Clique nicht besonders willkommen.
Oliver nickte: »Klar. Ich komme mit! So etwas lasse ich mir doch nicht entgehen!«
»Tschüss, dann macht’s mal gut, ihr Angsthasen«, stachelte Ben.
Doch keiner gab etwas darauf.
Jill ging als Erste nach Hause, um neun Uhr machte sich Leslie auf den Heimweg.
So trennten sich ihre Wege. Nun war es an der Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Es dämmerte bereits, als sie in Richtung Wald losgingen. Dunkel lag er vor ihnen, und doch wurde die Gegend indirekt vom Mond und den Sternen beleuchtet. Alle Farbe war außerhalb des Dorfes gewichen. Hier gab es nur noch Schwarz und Grau. Sie gingen immer weiter auf den Wald zu. Dorthin, wo sich der Pfad hoch auf den Berg befand. Das letzte Stück hinauf zu der dunklen Mühle mussten sie allerdings querfeldein weit ab vom Weg gehen. Die Ruine stand ganz oben, wo der Bach seine Quelle hatte.
Die Jugendlichen hatten mit jedem Schritt das Gefühl, nüchterner zu werden. Nach und nach verschwand die Wärme aus ihren Körpern, als hätte der Alkohol ihnen diese milde Nacht nur vorgegaukelt. Man sah ihren Atem kondensieren, der sich wie ein weißer Nebel gespenstisch um sie legte. Der Wald lag totenstill da. Nur ihre Schritte waren auf dem unbefestigten Untergrund zu hören. Ab und zu zerknackte ein dünner Ast unter ihren Füßen. Sonst war nichts zu hören. Eine erdrückende Stille umgab sie.
Langsam bekam es Oliver mit der Angst zu tun. Ihm wurde immer kälter, außerdem war es fast dunkel geworden. Nur der Mond erleuchtete ein wenig ihren Weg. Der Nebel kroch lautlos aus dem Boden und hüllte die Beine der Jugendlichen ein. Er umspülte sie wie Wellen am Ufer eines Strandes.
Es war unheimlich, und Oliver hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Der Wald war viel zu leise. Man hörte kein Tier, kein Insekt; noch nicht einmal der Bergwind rauschte in den Blättern. Etwas war faul, das spürte er deutlich. Oliver war sich sicher. Die Kälte hatte von seinem Körper Besitz ergriffen, sodass es ihn schüttelte. Sein Herz raste, und sein Atem ging schneller denn je. Er war kurz davor, einfach umzudrehen und heimzulaufen. Oder besser zu rennen.
Ben und Caroline schritten Arm in Arm voraus, als wäre es das Normalste der Welt, nachts im Dunkeln durch einen Wald zu einer verfluchten Mühle zu laufen.
Plötzlich hielt Oliver an und fragte zitternd: »Ben?«
Ben und Caroline stoppten und drehten sich zu Oliver um.
»Ich will ja kein Spielverderber sein«, sprach Oliver weiter und schluckte. »Aber wenn ihr euch so umschaut: Findet ihr das hier nicht total gruselig? Ist euch nicht auch so kalt wie mir? Irgendetwas stimmt hier nicht. Ihr merkt das doch auch, oder? Lasst uns umdrehen, dann können wir morgen bei Tageslicht noch mal zu der Ruine gehen.«
»Hast du etwa die Hosen voll, Schwabbel?«, fragte Ben, gefolgt von einem spöttischen Lachen.
»Nein, ich doch nicht! Für wen hältst du mich?« Oliver streckte die Brust raus und baute sich mutig vor den beiden auf. Er versuchte damit, seine Angst zu überspielen, doch es gelang ihm nicht sehr überzeugend.
Das merkte Ben sofort und blickte Oliver durchdringend an. »Sollen wir jetzt weitergehen oder hier Wurzeln schlagen? Was ist, Oliver? Kneifst du oder kommst du mit hoch? Glaubst du wirklich an Geister und Gespenster, oder bist du nur ein dicker Angsthase, der sich im Dunklen fürchtet? Genau wie Leslie?« Er nickte in Richtung Dorf. »Geh zurück! Oder wir können dich auch hier alleine lassen, kein Problem. Wir sammeln dich dann einfach auf dem Rückweg wieder ein.«
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