Wegen ihrer Mutter wollte sie sich auch an diesem Nachmittag wegschleichen. Sollte sie ruhig glauben, dass sie oben in ihrem Zimmer saß und etwas lernte oder so.
Doch da hatte sie die guten Ohren ihrer Mutter unterschätzt. »Wo willst du hin?«, drang die Stimme ihrer Mutter herrisch durch den Flur, als sie das Klimpern eines Schlüssels hörte.
»Verdammt! Wieder erwischt«, fluchte Jill leise und ballte die Faust, in der sie den Schlüssel hielt.
Kaum hatte sie es ausgesprochen, huschte ihre Mutter schon aus der Küche heraus und baute sich vor ihr auf: eine große, schlanke Frau mit knochigem Gesicht und dünnen, schulterlangen Haaren. Die helle Haut und die blonden Locken ließen sie fast wie einen Geist aussehen. Ihr Gesicht war zu einer strengen Maske eingefroren.
Jill blickte sie gleichgültig an, da sie es mittlerweile gewöhnt war.
»Fräulein. Es ist sieben Uhr. Willst du mir nicht sagen, wo du so spät noch hinwillst?«
»So spät? Ich wollte mich nur kurz mit Ben, Caroline, Leslie und so am Bushäuschen treffen«, antwortete Jill kleinlaut. Sie stand mit hängenden Schultern im Flur.
»Dieser Ben. Diese Clique. Ich weiß nicht, was du bei solchen asozialen Leuten verloren hast. So ungezogene, kleine Drecksblagen! Eigentlich dachte ich immer, ich hätte dich zu einem anständigen Mädchen erzogen. Leider muss ich immer wieder feststellen, dass ich mich da ziemlich in dir getäuscht habe. Solche Leute sind daran schuld, dass du so geworden bist.«
Jill senkte ihren Blick. »Bitte, Mama, nur bis zehn Uhr? Danach gehe ich auch sofort ins Bett, und morgen helfe ich dir beim Putzen und Abwaschen. In Ordnung? Bitte! Außerdem kann keiner Ben leiden, und die anderen sind wirklich in Ordnung. Mit Ben habe ich also gar nichts zu tun.«
»Nein! Du bleibst mit deinem Hintern gefälligst hier. Wolltest du nicht noch was für die Schule lernen?«
»Mama, bitte! Bis zehn Uhr sind drei Stunden. Ich tue auch alles, was du willst. Außerdem sind doch noch Sommerferien. Ich habe nichts mehr zu lernen. Im letzten Zeugnis hatte ich nur in Französisch eine Zwei, alle anderen Fächer waren sehr gut. Doch in Französisch lag es nur an der Lehrerin!«
»Ja, ja. Immer sind die Lehrer schuld.« Die Miene ihrer Mutter verfinsterte sich, während sie grübelte. Immer wenn Jills Mutter nachdachte, sah sie wie versteinert aus. Fast wie eine Statue.
Nach etwa einer für Jill unendlich langen Minute klarte ihr Blick wieder auf, die Dunkelheit war fast aus ihrem Gesicht gewichen.
»In Ordnung. Du darfst bis acht Uhr raus und keine Sekunde länger. Wenn du bis acht nicht da bist, dann komme ich dich holen, und du bekommst Hausarrest bis an dein Lebensende.«
»Nur bis acht? Die anderen werden mich auslachen. Bitte, Mama!«
»Ich habe nein gesagt. Bis acht, und wenn du jetzt noch einmal fragst, bleibst du zu Hause, Madame!«
»Ist gut.« Sie wollte gerade zur Tür hinaus, als die gebieterische Stimme ihrer Mutter erneut erklang. »Hast du nicht etwas vergessen?«
Jill rollte mit den Augen, bevor sie sich zu ihrer Mutter umdrehte. »Ich habe dich lieb, Mama. Bis später. Ich werde pünktlich sein«, ratterte sie monoton, ging zu ihrer Mutter und gab ihr widerwillig einen Kuss auf die Wange.
»Viel Spaß, meine Kleine!«, rief ihr ihre Mutter hinterher, als die Tür ins Schloss fiel.
»Viel Spaß, na klar. Du bist mir komisch«, murmelte sie.
Was keiner zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass Jills Mutter mit dieser übertriebenen Strenge und Vorsicht ihrer Tochter vielleicht das Leben retten würde.
Das neue Bushäuschen lag abseits der Hauptstraße. Es war in einer der Seitenstraßen gebaut worden, damit die Grundschulkinder nicht an der Hauptstraße auf den Bus warten mussten. Vor dem alten Bushäuschen war es immer wieder vorgekommen, dass ein Kind beim Spielen unaufmerksam war und vor ein Auto lief. Das konnte nun nicht mehr so einfach passieren.
Für die Jugend im Ort war das Bushäuschen der Treffpunkt Nummer eins. Er war schön abgelegen. Rund um die Haltestelle grenzten nur große Gärten an die Straße. Ideal, um niemanden zu stören, und im Umkehrschluss störte sie auch keiner der Anwohner. Bevor es das Bushäuschen gab, probierten sie einige Plätze als Jugendtreff aus. Doch nirgendwo wurden sie lange geduldet. Das hatte jedoch, seit es die neue Haltestelle gab, ein Ende: Sie waren endlich am Ziel angelangt. Vor allem in den Sommerferien konnte man die warmen Abende dort mit einer Kiste Bier genießen.
Dies war so ein warmer Abend. Weit und breit keine Wolke zu sehen. Die Nacht würde sternenklar werden und hoffentlich ein bisschen kühler. Die letzten Tage waren sehr heiß und schwül gewesen, und das Gewitter von der vorherigen Nacht hatte kaum Abkühlung mit sich gebracht.
Als Jill an der Bushaltestelle ankam, waren alle da bis auf ihr Cliquenpärchen Ben und Caroline. Lustlos schlurfte sie den Gehsteig entlang. Sie war immer noch geladen von der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter. Irgendwann würde sie ihre Mutter erwürgen, wenn das Ganze nicht bald ein Ende hatte. Es war so unfair. Doch was sollte sie dagegen unternehmen? Reden brachte nichts, und sich aufregen noch weniger. Da half nur noch eins: abhauen oder Mord.
»Habe ich was verpasst?«, fragte Jill.
Leslie, sechzehn, und Oliver, fünfzehn Jahre alt, saßen an der Bushaltestelle und warteten. Beide hatten Jill schon beobachtet, seitdem sie aus der Seitengasse herausgekommen war.
»Nein, wir sind auch gerade erst angekommen«, antwortete Leslie freundlich, als Jill die beiden erreicht hatte und stehen blieb.
Ein Kasten Bier stand auf der Bank. Oliver reichte ihr höflich eine Flasche, die er zuvor am Metallrahmen der Haltestelle geöffnet hatte. Das Bier schmeckte widerlich und war zudem lauwarm. Kalt hätte es allerdings auch nicht viel besser geschmeckt. Da alle noch in die Schule gingen und keiner von ihnen einen Job hatte, konnten sie sich vom Taschengeld nur das billigste und damit ekelhafteste Bier leisten. Doch wenn man erst mal eins oder zwei getrunken hatte, dann merkte man den widerlichen Geschmack kaum noch. Mit jedem Schluck schien es ein wenig besser zu werden. Wobei es heißen müsste: Bei steigendem Promillegehalt merkte man den herben Geschmack immer weniger, da das Ekel-Bier die Geschmacksnerven lahmlegte.
»Was ist los, Jill? Warum schaust du so traurig?«, fragte Leslie. Sie klang fürsorglich, fast mütterlich. Leslie war die Cliquenmutter, die alle zusammenhielt und sich rührend um ihre Freunde kümmerte, wenn diese es zuließen. Jill war der festen Überzeugung, sie würde sicherlich nach dem Abitur Kindergärtnerin werden. Alternativ Lehrerin. Doch Leslie war da ganz anderer Meinung.
»Ach nichts. Wieder dieselbe Geschichte«, antwortete sie knapp.
»Stress mit deiner Mutter?«, fragte Oliver.
»Ja, du hast es erfasst«, antwortete Jill und hielt ihren Freunden die Bierflasche zum Prosten entgegen. Sie stießen gemeinsam an und tranken alle einen Schluck. Jill nahm den größten von allen, um ihren Frust hinunterzuspülen. Danach kramte sie aufgeregt in all ihren Taschen. »Oh, Mist«, fluchte sie.
»Was ist los?«, fragten Oliver und Leslie gleichzeitig.
»Ich habe meine Kaugummis vergessen. Hat einer von euch einen für mich? Ich brauche ihn für später, denn wenn meine Mutter das Bier riecht, darf ich nie wieder vor die Tür.«
Oliver langte in seine Hosentasche und hielt ihr stumm einen Kaugummi entgegen, den Jill schnell in ihrer Tasche verschwinden ließ. Die beiden waren die Schikanen von Jills Mutter bereits gewöhnt und hatten immer Kaugummis für sie dabei, da die Arme meistens vor lauter Stress alles vergaß. So eine Mutter hätte sich keiner von ihnen gewünscht.
»Vielen Dank«, murmelte Jill. Sie ließ den Kopf hängen und starrte auf ihre Flasche.
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