Neder von der Goltz — Martha schweigt
Anna Neder von der Goltz, 1957 in Unterfranken geboren, studierte Sonderpädagogik und Theaterwissenschaft. In Philosophie promovierte sie zum Thema Jugend und Tod und unterrichtete viele Jahre an Schulen und Hochschulen. Seit 2014 Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und zwei Erzählbände. Preisträgerin „StadtLesen“ 2020. Ihr Roman „Martha schweigt“ stand auf der Longlist des Blogbuster Preises 2018. Sie lebt in Nürnberg. www.neder-goltz.de
Anna Neder von der Goltz
Martha schweigt
Roman
Königshausen & Neumann
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2020
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
Umschlag: skh-softics / coverart
Umschlagabbildung: Olaf Gulbransson: Nebel in den Niederungen, 1932, © Olaf Gulbransson /
VG Bild-Kunst, Bonn 2020.
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Printed in Germany
ISBN 978-3-8260-7256-7
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Martha schweigt
für Martha
1955
Ich hätte das Dorf nicht verlassen dürfen, dachte sie, ich hätte niemals fortgehen sollen.
Noch immer hielt Martha den Brief fest in ihren Händen. Sie trat ans Fenster und schaute in Richtung Westen, dort wo ihr Dorf in fünfzig Kilometer Entfernung lag.
Ihr Blick schweifte über die Dächer der Stadt. Der Kirchturm von Sankt Josef, der sie an ihren Heimatort erinnerte und dessen Glockentöne stündlich in e-fis-gis-h-cis ertönten, hatte ihr so oft Trost gespendet, vor allem dann, wenn ihr Heimweh sie überwältigte.
Anstelle der Dächer stellte sie sich manchmal weite Felder und Wiesen mit blühenden Bäumen vor, im Mai weiß, im Sommer rot, voll mit Kirschen, und im Herbst voller gelber Äpfel.
Wie gerne wäre sie hinausgerannt, barfuß über die Wiesen gelaufen, so wie sie es oft als Kind getan hatte – doch es lag das vierstöckige Treppenhaus dazwischen, und unten angekommen, bot sich die Natur, wenn sie die Tür ins Freie öffnete, nur als kümmerlicher, von Hecken begrenzter Stadtpark an. Und der Wald viel zu weit weg, um ihn zu Fuß zu erreichen und ihm die Sorgen hinaustragen zu können.
Sie starrte erneut auf das Dokument. Ihr Name war auf der Besitzurkunde eingetragen. Das Haus gehörte ihr. Das schönste Haus im Dorf, aus Buntsandstein, ein Garten mit Obstbäumen, umgeben von einer alten Steinmauer.
Er hatte es ihr vermacht. Ausgerechnet er.
1 Träume 1945
In den Fenstern der Bergstraße Nummer acht brannte noch Licht bis tief in die Nacht. Man musste siebenundfünfzig Stufen zum Haus hochsteigen. Martha zählte jedes Mal die Treppenstufen und nahm immer zwei gleichzeitig. Ihre Mutter klagte über das wackelige Holzgeländer und befürchtete, dass ihre porösen Knie und das Geländer irgendwann gleichzeitig einbrechen könnten.
Die Haustür hing schief in den Angeln, so dass der Wind an den Ecken hindurchwehen konnte. Die Holzfarbe an den Fensterläden blätterte ab und der Lehmputz bröckelte von den Wänden und legte die Stützbalken frei, so dass sie schutzlos Sturm und Regen ausgeliefert waren.
Das kleine baufällige Haus wartete vergeblich auf den Mann, der dies alles reparieren, wiederherrichten würde, denn der Krieg hatte ihn vor langer Zeit verschluckt.
Edwin, einer der beiden Nachbarjungen, trug das Brennholz hinauf. Sein Vater hatte sich beim letzten Fronturlaub in der Scheune erhängt und nun verdienten sich die beiden Jungen durch Holzsammeln etwas dazu. Marthas Mutter nähte für Edwins Mutter und die Söhne und bekam Milch, Kartoffeln und manchmal auch Kohl dafür.
„Meinst du, der Vater kommt wieder heim?“, fragte Mutter jeden Abend, während sie den Lampenschirm bis zur Tischplatte hinunterzog, um beim Stopfen besser sehen zu können. Martha blieb ihr jedes Mal die Antwort schuldig.
Bis spät in die Nacht saßen die beiden Frauen am Küchentisch. Sie hatten zuvor einen Topf Milch auf dem Herd erhitzt, in den die Mutter Honig hineinrührte, bevor sie ihre Stopfsachen aus der Tischschublade holte und anfing, mit dicker Wolle und Stopfnadel die Löcher zu schließen. Martha war über Papierbögen gebeugt, die sie für ein Schnittmuster auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Sie wollte das Fräulein in der Schule beeindrucken und musste die ganze Zeit daran denken, welche Augen es machen würde, wenn sie ihr die Plisseefalten, die sie gelegt und geheftet hatte, zeigen würde.
Aus den alten Mänteln und Jacken ihres Vaters hatte sie schon Flanellröcke genäht und aus dem restlichen Vorhangstoff Sommerkleider für sich und die Mutter.
Die Mutter strickte, meist aus aufgetrennter Wolle, für die Leute im Dorf. Und im Rhythmus der Stricknadeln, mit denen sie den Faden führte, fing sie an, Geschichten von früher zu erzählen: Vom Schorsch, der so jung verunglückt war, vom Ferdinand mit dem Klumpfuß, von der Erna, die auf die höhere Schule geschickt worden war, von der Antonia …
„Mama, ich will auch auf die höhere Schule gehen“, unterbrach Martha den Erzählstrom ihrer Mutter.
„Was du dir net einbildest“, sagte die Mutter, als sie von ihrer Handarbeit hochschaute, „da muss man doch g’scheit sein?“
„Ich bin g’scheit“, antwortete Martha trotzig, „das Fräulein lässt mich oft mit den jüngeren Kindern rechnen und lesen und fragt, ob ich den großen Mädchen an der Nähmaschine helfen kann.“
Die Augen der Mutter wirkten müde, als sie zu ihrer Tochter aufsah.
„Martha, treib dir die Flausen aus dem Kopf, wer soll denn die Arbeit daheim machen?“
Sie bauten Gemüse im Garten an und jeden Herbst legten sie gestampftes Sauerkraut und Soleier in große Tontöpfe ein, kochten aus Fallobst Apfelmus und aus Himbeeren und Walderdbeeren Marmelade. Die Kräuterkunde für die Dorfschulklasse fand oft in ihrem Garten und im nahegelegenen Wald statt, wo Martha die Exkursion für die Schulkinder leiten durfte.
„Mutter, ich bin die Beste in der Schule, ich kann alles aus dem Heimatkundeheft auswendig aufsagen:
Der rote und der weiße Main
fließen westlich von Kulmbach zusammen.
Bald ist Lichtenfels erreicht,
rechts auf steiler Höhe steht Schloss Banz, …“
„Still, Martha, sei still“, unterbrach die Mutter sie. „Bete lieber ein Gegrüßet seist du Maria oder ein Vater unser, damit der Herrgott seine Hand über unser Haus hält.“
„Das ist doch kein Haus, Mutter, das ist eine Bruchbude!“, entgegnete Martha ihr zornig.
„Versündige dich nicht, Kind“, ermahnte die Mutter sie.
„Wenn ich Lehrerin wäre, könnten wir im Schulhaus wohnen, Mama, wär das nicht schön?“
Doch die Mutter hatte den Kopf schon wieder über ihre Handarbeit gebeugt.
Am nächsten Morgen konnte Martha es kaum erwarten, in die Schule zu kommen, denn heute würde sie dem Fräulein ihr Plissee- Kleid zeigen. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, klemmte ihr Kleid, das sie in Packpapier eingewickelt hatte, auf dem Gepäckträger fest und fuhr mit ihrem Schulranzen auf dem Rücken los.
Während der ganzen Fahrt musste sie an ihre Plisseefalten denken, die sie dieses Mal oben im Brustteil eingenäht hatte, damit ihr Busen größer wirken würde. Mit einem weißen Spitzenkragen darauf wollte sie es zu ihrem Vorstellungsgespräch in der Hauswirtschaftsschule anziehen und hoffte, dass man fragen würde, ob sie das Kleid selbst genäht hatte.
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