Die nächste Meldung ließ ihn aufhorchen:
„Osnabrück. Heute Vormittag ist es während einer akademischen Feierstunde in der Fachhochschule Osnabrück zu einem Sprengstoffanschlag gekommen. Es gab einen Toten und zahlreiche Verletzte. Sehen sie hierzu einen Bericht unseres Reporters Gerhard Wunse.“
Die Kamera schwenkte über die Dächer Osnabrücks mit der Katharinenkirche, dem Dom, der Marienkirche, den Windrädern auf dem Piesberg und blieb einen Augenblick auf die Rauchsäule gerichtet, die über den Hochschulgebäuden am Westerberg schwebte. Schnitt.
Es folgte ein Interview mit einem Polizeisprecher. Im Hintergrund hektisches Treiben und laute Geräusche von Löschfahrzeugen und Notstromaggregaten.
Der Sprecher erläuterte, dass es sich bei dem Toten um den britischen Professor Bryan Scantlebury handeln würde, einen international renommierten Wirtschaftswissenschaftler, der während des heutigen Festaktes wegen seiner Verdienste für die Entwicklung deutsch-britischer Studienangebote zum Ehrensenator ernannt werden sollte. „Da er kürzlich wegen eines Zeitungsartikels gegen den Terror in Nordirland in die Schusslinie der Irisch-Republikanischen-Armee geraten war, ist nicht auszuschließen, dass die Bombe auf das Konto dieser Terrororganisation geht.“
Nun wurden kurze Ausschnitte aus einem Amateurvideo eingeblendet: die Reihe der Ehrengäste in der Aula, die festlich geschmückte Bühne, Professor Scantlebury im Gespräch mit Berthold Ackermann. Dazu der Kommentator:
„Professor Ackermann, der Vizepräsident der Hochschule, wurde bei diesem Anschlag schwer verletzt. Die Bombe explodierte in dem Augenblick, als er die Bühne betrat, um die Festveranstaltung offiziell zu eröffnen. Seit den Abendstunden wird vermutet, dass der Anschlag eventuell auch im Zusammenhang mit Ackermanns Forschungsarbeiten stehen könnte. Die von ihm neu entwickelte Keramikbeschichtung in Flugzeugturbinen ist nämlich für den britischen Triebwerkhersteller Rolls-Royce ...“
Brandes sprang auf. „Welcher verdammte Idiot war das?“
Er trat gegen den Schreibtischsessel, stolperte fluchend in die Küche, riss die Kühlschranktür auf und fing an, zwischen Käsetüten, Aufschnittpäckchen und Jogurtbechern aufgeregt nach etwas zu suchen: eine Flasche Wodka! Er hatte sie selbst versteckt. Im Eisfach, ganz hinten.
Hastig schraubte er den Verschluss ab und goss den kalten Schnaps in sich hinein, als könnte er nur so das krampfartige Reißen in seiner Brust betäuben. Im Hintergrund war noch die Stimme des Reporters zu hören. Er berichtete von zahlreichen Prominenten mit erheblichen Verletzungen; darunter der Bischof von Osnabrück, der Oppositionsführer des niedersächsischen Landtages und der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung.
Brandes schluckte weiter. Seine Finger schmerzten von der Eiskruste an der Flasche. Er schluckte, schluckte - und setzte die Flasche erst ab, als die Kälte ihm die Kehle zuschnürte. Hustend hielt er sich am Kühlschrank fest, knallte die Flasche auf die Ablage. In seinem Magen rumorte es. Er musste würgen, rannte los in Richtung Toilette, blieb mit der Schulter am Türrahmen hängen, fluchte, löste sich wieder, stolperte weiter. Sein Gesicht: eine Grimasse.
*
Brandes saß aufrecht im Bett, rieb sich die Augen, wischte mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Sein Herz jagte. Ein Schrei hallte in seinen Ohren, verzerrt, wie aus einem vorbei rasenden Zug. Er hatte sich angehört wie „Rache!“
Die blassrosa Leuchtreklame von der anderen Straßenseite warf flackrige Schatten an die Wand. Dazwischen entdeckte er, wenn auch nur verschwommen, die kleine minoische Doppelaxt, den vertrauten Kalender mit den farbigen Steckwürfeln und daneben das silberfarbige Holzbrett mit der Collage aus aufgeklebten Dioden, Transistoren, Widerständen und bizarr verwinkelten Drähten: Erinnerungsstücke aus vergangenen Zeiten, wie sie nur in seinem Zimmer, dem Kombizimmer, hängen konnten. Das beruhigte ihn.
Er rutschte auf die Bettkante, stemmte sich hoch und schlurfte zur Toilette. „Wieso muss ich nachts eigentlich mehr unten rauspissen, als ich tagsüber oben reinschütte?“, schimpfte er. „Fehlkonstruktion - verdammte!“
Erst als er wieder den Weg zurück auf den Rand seines Bettes gefunden hatte und diese stechenden Schmerzen im Nacken und am Hinterkopf spürte, ahnte er, dass er nach dem Zusammentreffen mit Stachynskij noch in mehreren Kneipen heftig zugelangt haben musste. Der faulige Geschmack im Mund und der Geruch, der nach jedem Aufstoßen in die Nase strömte, waren weitere Indizien.
„Und wie bin ich nach Hause gekommen? Weshalb hab ich noch Schuhe an? Und det Hemd? Und die Hose?“
Er versuchte sich zu erinnern, krampfhaft. Aber da war nichts! Kein noch so kleiner Gedankenzipfel. Nur dumpfe Leere im Kopf und diese entsetzlichen Schmerzen; sie kamen und vergingen im Rhythmus des Pulsschlages.
Drei Uhr sieben zeigte der Radiowecker mit roten Leuchtziffern. Zu früh, um aufzustehen.
Brandes zog sich im Sitzen aus, schob die Beine unter die Bettdecke. Mit den Händen massierte er Hals und Schultern. Dadurch wurden die Schmerzen erträglicher. Sein Blick streifte über die Wand und blieb auf dem Kalender mit den Steckwürfeln hängen.
Stiepnaya! Wie ein Geschoss bohrte sich dieses Wort durch sein Gehirn. Selbst in der kasachischen Steppe ist er mir in die Quere gekommen: dieser gottverdammte Ackermann!
Stiepnaya! Die große Hoffnung nach der Flucht aus Bad Ems 1973 und dem Scheitern im amerikanischen Hartford einige Jahre später.
„Für die BRD und die USA bist du verbrannt“, hatte Oberst Warnke im Ministerium für Staatssicherheit gesagt, damals, so im Frühjahr 79 muss das gewesen sein. „Aber die Jenossen vom KGB schätzen deine besonderen Fähigkeiten. Immer noch. Sie wollen dich in der Stiepnaya für Italien präparieren. Siehst ja schließlich aus wie ein Italiener. Oder?“
Brandes legte sich auf den Rücken, zog die Decke langsam bis unters Kinn und starrte auf die Wand.
Stiepnaya! Wo war die eigentlich? Wo genau?
Er erinnerte sich dunkel an eine Akte. Während seiner Zeit bei der Schule für Nachrichtenwesen in Bad Ems hatte er sie wegen einer kleinen Unachtsamkeit des Verschlusssachenverwalters kurz durchblättern können. Als Fabrik für russische Spione in den romanisch sprechenden Ländern wurde sie darin beschrieben und an der nördlichen Grenze Kasachstans vermutet, in der Nähe von Schkalow. Er erinnerte sich auch an Zeichnungen mit den verschiedenen hermetisch abgeschirmten Sektionen innerhalb des riesigen Areals: für Frankreich im nordwestlichen Teil, Spanien im Norden, Italien im Nordosten und für Portugal, Brasilien, Argentinien, Mexiko im Süden.
Ähnliche Einrichtungen gab es, so hatte er gelesen, auch für andere Sprachregionen. Die Prakowka, zum Beispiel, für Deutschland und für die nordeuropäischen Länder. Sie lag bei Minsk.
Alle waren sie nach dem Vorbild der Gatschina aufgebaut. Über die Gatschina bei Kuibyschew gab es reichlich Material. Sie war die berühmteste dieser Art, speziell für die Agenten in den englischsprachigen Ländern: eine fast naturgetreue Nachbildung städtischen und dörflichen Lebens mit Kneipen, Friseur und allem, was dazugehört. Zehn Jahre dauerte das Training in der Gatschina. Zehn Jahre Leben mit englischem Namen unter englischen Verhältnissen, oder amerikanischen. Meisterspione wie Gordon Lonsdale, Reginald Kenneth Osborne oder Geoffrey Nobel hatten dort ihre Ausbildung erhalten. Niemand wollte nach ihrer Enttarnung glauben, dass sie in Wahrheit Russen waren.
Stiepnaya! Eine Ausnahme für jemanden, der kein Bürger der Sowjetunion war. Eine seltene Ausnahme. Zumal die jungen russischen Agenten, selbst nachdem sie die Marx-Engels-Schule in Gorkij und anschließend die weiteren Etappen in Moskau und Werchownoje absolviert hatten, nicht im Geringsten etwas von der Existenz der Gatschina, Stiepnaya oder Prakowka ahnten. Ein Schauer kroch über seinen Rücken.
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