„Gott sei Dank!“, entfuhr es Ellen. „Wir haben ihn!“
„Der Präsident liegt übrigens gleich nebenan“, sagte Frau Gödeler zu Trotta. „Mit einem Sicherheitsbeamten vor der Tür. Anordnung der Polizei, solange die Hintergründe des Anschlags nicht klar sind.“
„Weiß man denn schon was?“, fragte Trotta. „Gibt´s Hinweise, Anhaltspunkte?“
„Nichts Genaues. Wegen Professor Scantleburys Tod ist die IRA im Verdacht. Der soll in London kürzlich eine heftige Presseattacke gegen die losgetreten haben. Logistisches Aushungern muss er gefordert haben, oder so ähnlich. Mehrere Morddrohungen sollen die Folge gewesen sein. Aber das macht alles keinen Sinn. Warum ausgerechnet hier?“
„Und Mühlenhofen? Weiß man schon, warum der Präsident kurz vor Beginn des Festaktes genau vor seiner Haustür verunglückte? Da ist doch etwas faul.“
Ellen bemerkte, dass sie die ganze Zeit schon von einer Frau in hautenger Jeans und einem dunkelblauen Rollkragenpullover beobachtet wurde. Die stand jetzt auf und kam auf sie zu.
„Verzeihung, Samantha Smits vom BRANDPUNT “, sagte sie mit niederländischem Akzent. „Respektive der deutschen Ausgabe, dem BRENNPUNKT . Sie wissen? Die neue europäische Konkurrenz von SPIEGEL und FOCUS . Ich unterbreche Sie nur ungern. Aber zufällig habe ich mitbekommen, dass Ihr Vater und Herr Mühlenhofen im selben Krankenhaus liegen?“ Und zu Ellen gewandt ergänzte sie: „Ich will da jetzt hinfahren. Wenn Sie möchten, nehme ich Sie mit.“
Anke Gödeler reagierte mürrisch. Ellen sah nur die Chance, möglichst schnell zu ihrem Vater zu kommen. „Danke“, sagte sie. „Das Angebot nehme ich gern an“.
Während die Journalistin zu ihrem Tisch zurücklief, eilig den Laptop und die übrigen Unterlagen zusammenpackte, bedankte sich Ellen bei Arnulf Trotta und Anke Gödeler. Sie hatte jetzt nur eines im Sinn: die Klinik und ihren Vater!
„Sensationspresse!“, entfuhr es Anke Gödeler.
Trotta grinste.
„Lachen Sie ruhig.“ Sie griff zum Handy. „Ich werde Mühlenhofen warnen vor dieser Frau.“
*
Berthold Ackermann lag auf dem Rücken. Er atmete unregelmäßig. Links neben ihm hing ein Glasbehälter an einer Stange. Daraus tropfte Nährlösung in einen durchsichtigen Plastikschlauch und lief von dort weiter bis zu einer Kanüle, die an seinem Handrücken mit Heftpflaster festgeklebt war. Von seiner Brust führte ein Bündel farbiger Drähte in mehrere Geräte am Kopfende des Bettes. Aus winzigen Lautsprechern ertönte rhythmisches Piepen, und in kleinen Monitoren bewegten sich im gleichen Takt Zacken und Kurven auf und ab. Bertholds rechter Arm ruhte angewinkelt in einem Schienenverband auf dem Bauch, er hob und senkte sich im Rhythmus der Atemzüge. Am Fußende hatten die Pfleger aus rundgebogenen Stäben und Verbandmaterial eine Art Tunnel gebaut, zum Schutz des rechten Fußes vor dem Druck der Bettdecke.
Ellen hatte sich einen Stuhl neben das Krankenbett gezogen. Sie saß darauf schon eine ganze Weile, streichelte nachdenklich die linke Hand ihres Vaters.
„Die Brandwunden bereiten uns die größten Sorgen“, hatte der Chefarzt bei seinem letzten Kontrollgang gesagt, vor einer viertel Stunde etwa. „Um den Knöchel herum, wo die Strümpfe saßen, da sind stellenweise Verbrennungen zweiten Grades, und die Ferse und die Fußunterseite sehen auch nicht gut aus. Kann sein, dass da eine Hauttransplantation erforderlich wird. Langwierige Geschichte, erfahrungsgemäß.“
„Und der rechte Arm?“, hatte Ellen gefragt.
„Gebrochen, am Oberarmknochen. Aber den konnten wir leicht richten.“
„Und wie schlimm sind die übrigen Verletzungen?“
„Abgesehen von den Prellungen und Schürfwunden an Kopf, Hüfte und am Oberschenkel sind noch zwei Rippen angebrochen, auf der rechten Seite. Ziemlich schmerzhaft und kann dauern.“
„Ist das nicht gefährlich?“
„Nein. Da können sie beruhigt sein, Frau Ackermann. Problematisch sind, wie schon gesagt, die Verbrennungen. Damit ist nicht zu spaßen. Wegen der Belastung des Kreislaufs, besonders aber wegen der Infektionsgefahr. Die kann man selbst bei größter Sorgfalt niemals völlig auschließen.“
Ellen streichelte noch einmal über die Hand. Dann stand sie auf, ging ein paar Schritte und blieb am Fenster stehen. Sie stützte sich mit den Händen auf die Fensterbank. Ihr Blick streifte über die bräunlichen Weideflächen, die sanft ins Tal abfielen und am Horizont wieder aufwärts in niedrige Hecken, Buschgruppen und bewaldete Hügel übergingen. Rechts erkannte sie die flachen Gebäude des Flugplatzes Atterheide. Über allem schwebten dichte graue Wolken. Es regnete leicht.
Sie setzte sich auf die Fensterbank und betrachtete ihren Vater. Schade, dachte sie. Auf den Hochschulball heute Abend hatte ich mich so gefreut. Einmal wieder mit ihm tanzen, so richtig ausgiebig wie damals, vor sechs Jahren. Ob er das mit seinem Fuß jemals wieder kann?
Erinnerungen an den Abiturball 1989 stiegen in ihr hoch: Übermütig und ausdauernd hatten wir getanzt. Tango, Quick-Stepp, Jive, Wiener Walzer. Er beherrschte das meisterhaft. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl: Jetzt hat er akzeptiert, dass seine Tochter erwachsen ist. Endlich! Bis in die Nacht hinein haben wir einen Schlussstrich unter die Kindheit getanzt. Eine katastrophale Kindheit. Ja, so habe ich die letzten Jahre empfunden. Eine Kette endloser Kleinkriege. Und alles nur, weil ihn immer diese gottverdammte Angst übermannte, seine Tochter könnte wegen ihrer „Jungensgeschichten“ oder „Affären“ durchs Abitur fallen – und vielleicht so werden wie die Mutter.
Erst das Archäologiestudium in Freiburg und später die Zeit in Saarbrücken, der räumliche Abstand, das Sich-nicht-ständig-beobachtet-Fühlen: Das hat unser Verhältnis nach und nach entkrampft.
Ellen horchte auf. Vor der Tür des Krankenzimmers hörte sie Schritte. Ein Mann und eine Frau schienen sich zu streiten. Dann öffnete sich die Tür und Samantha Smits kam mit hochrotem Kopf herein, zischte dem Sicherheitsbeamten eine unverständliche Bemerkung zu und versuchte, die Tür wieder zu schließen. Gegen ihn hatte sie aber keine Chance. Ein Ruck, die Tür flog auf und schon hatte er Samantha im Polizeigriff. Sie schrie vor Schmerz kurz auf.
Ellen sprang von der Fensterbank. „Sind denn heute alle übergeschnappt? Wollen Sie, dass mein Vater durch dieses Getue aufgeweckt wird?“
„Tschuldigung“, sagte der Beamte. „Aber ich habe strengste Anwei ...“
„Schon gut“, unterbrach Ellen. „Sie können loslassen. Ich kenne diese Journalistin.“
Der Mann zuckte mit den Schultern, ließ Samantha los und schlurfte betont langsam aus dem Zimmer. Die Tür ließ er einen Spalt offen.
„Danke, Ellen“, sagte Samantha Smits. „Ich darf doch Ellen zu Ihnen sagen. Oder?“
„War das denn nötig? Sie sehen doch, dass mein Vater Ruhe braucht.“
Samantha kramte in ihrer Umhängetasche. Dann hatte sie plötzlich eine Kamera in der Hand und schritt auf das Bett zu.
„Die stecken Sie mal schnell wieder weg!“ Ellens Stimme klang verärgert. „Keine Fotos!“
„Aber ich brauche ein Bild. Text und Bild zusammen vermitteln dem Leser erst einen anschaulichen Gesamteindruck.“
„Glauben Sie im Ernst, bei dem Kopfverband erkennt irgendeiner Ihrer Leser meinen Vater wieder? Ich bitte Sie.“
„Ich brauche aber ein Bild. Möglichst authentisch.“
Ellen sah, wie die graugrünen Augen in dem winterurlaubsgebräunten Gesicht listig leuchteten. Die wird garantiert nicht locker lassen.
„Unsere Leser haben ein Recht auf anschauliche Darstellung“, setzte Samantha nach. „Das erwarten die. Das ist unser Markenzeichen. Und ein bisschen Entgegenkommen ihrerseits ....- schließlich habe ich Sie hier hergefahren.“
Читать дальше