Ellen Ackermann (26), Bertholds Tochter, eine lebenslustige Archäologie-Studentin, die sich auf ihre Promotion an der Universität Rethymnon (Kreta) vorbereitet. Sie sieht ihrer 1973 tödlich verunglückten Mutter Gisela täuschend ähnlich, hat auch deren erotische Ausstrahlung.
Samantha Smits (43), niederländische Journalistin. Sie erlebt den Anschlag in Osnabrück und stößt bei ihren Recherchen schon sehr früh auf Spuren im Geheimdienstmilieu, während Polizei und BKA die Täter noch im Umfeld der IRA vermuten. Aus anfangs rein journalistischem Interesse entwickelt sich langsam Liebe zu Ackermann. Das widerstrebt Ellen, zumal aus der Beziehung neue Probleme entstehen: Samantha arbeitet mit belgischen und französischen Kollegen an einem Buch über Verbindungen früherer Stasi- und KGB-Agenten mit kolumbianischen Drogenkartellen. Sie entdeckt dabei ein Beziehungsgeflecht, das bis in höchste Regierungskreise der Bundesrepublik Deutschland führt.
Wachsam sein, immerzu,
Und das Herz ohne Ruh ´,
Auch in friedlicher Zeit nie geschont.
Tschekisten, Beschützer des Friedens der Menschen,
Soldaten der unsichtbaren Front.
Dies ist der Refrain eines Kampfliedes sowjetischer Tschekisten. Die 1917 im Auftrag Lenins von Feliks Edmundowitsch Dserschinskij gegründete Geheimpolizei „Tscheka“ war wegen ihrer grausamen Exzesse gefürchtet. Aus ihr wurde nach mehrfachen Umbenennungen 1954 der Geheimdienst KGB.
Markus Wolf, der legendäre Leiter der DDR-Auslandsaufklärung, hat dieses Kampflied für seine „Kundschafter an der unsichtbaren Front“ - die Agenten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) - ins Deutsche übersetzt.
Das Lied hat mehrere Strophen und wurde bei geselligen Anlässen gesungen.
Wachsam sein, immerzu ...
In diesem Thriller werden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, auf ein Phänomen stoßen, mit dem viele Agenten schon gerungen haben. Klaus Fuchs, der so genannte „Atomspion“, umschrieb es einmal mit dem Begriff „kontrollierte Schizophrenie“. Er verband damit die Frage: Wie lange und unter welchen Bedingungen gelingt es, die Kontrolle über das gleichzeitige Denken, Fühlen und Handeln in mehreren unterschiedlichen Lebenswelten zu behalten?
Aber gelingt das auch, wenn der Auftraggeber, das Land, die geistige Heimat des Spions plötzlich nicht mehr existiert?
Genau damit ringt der Protagonist dieses Thrillers; und weil dies an realen Schauplätzen geschieht und eingebettet ist in Ereignisse mit bekannten Persönlichkeiten und Organisationen der jüngeren Zeitgeschichte, entsteht der Eindruck, als hätte sich dies alles genau so zugetragen. Dennoch: Die Handlung und seine Figuren sind frei erfunden. Lassen Sie sich durch die Vermischung von Fiktion und Fakten nicht Ihre Kontrolle über Phantasie und Wirklichkeit entreißen.
Und bleiben Sie wachsam. Denn es gibt sie immer noch: Diese mehr oder weniger versteckt arbeitenden und unverbesserlichen Tschekisten mit ihrem antrainierten Zerstörungspotenzial aus der Zeit des Kalten Krieges; sie feiern möglicherweise gerade das 100-jährige Bestehen der Tscheka.
Beim Öffnen des Briefkastens spürte er sie wieder: diese innere Unruhe von heute Morgen. Schweißgebadet war er aufgewacht, und das Herz hatte sein Blut durch die Adern gejagt, als wäre er in größter Gefahr.
Dabei klemmte die Briefkastentür nur ganz leicht. Sonst war da nichts. Kein Kratzer am Schloss. Keine Fingerabdrücke. Nur das Messingschild mit den eingravierten Buchstaben „Detektei M. Brandes“ blitzte so, als hätte es eben jemand blank gerieben.
Oder war es der Brief im Kasten? - Nicht zugeklebt. Keine Anschrift. Kein Absender. Misstrauisch beäugte er ihn, nahm ihn behutsam heraus, betrachtete ihn von allen Seiten. Seine Hand zitterte. Er schob den Zeigefinger zwischen die Blätter, bis er genau das Wort lesen konnte, das ihn seit der Entlassung aus dem Gefängnis verfolgte: Rechnung!
Schritte hallten durch das gekachelte Treppenhaus, kamen näher, ließen den sonst üblichen Fluch zwischen seinen Lippen gefrieren. Blitzschnell drehte er sich um. Er sah in zwei große Augen, deren Pupillen sich so bewegten, als würden sie ihn von oben bis unten einschätzen. Das faltige Gesicht des Mannes hinter den dicken Brillengläsern sah harmlos aus. Aber in der linken Hand sah Brandes eine große Rohrzange pendeln.
„Na?“, fragte der Alte. „Fangense immer erst kurz vor zwölfe an?“ Und weil er keine Antwort bekam, setzte er gleich nach: „Schön, det ick Sie ooch mal zu Jesicht krieje. Motzke. Bin der Hausmeister hier. Det mit die fällige Kaution, den Umschlag da, den hab ick innen Briefkasten jelegt.“ Dabei streckte er die rechte Hand zum Gruß vor und redete wie ein Wasserfall weiter: Über die miese Zahlungsmoral heutzutage, über tropfende Heizungsrohre, die Witwe Hollewitz im zweiten Stock, die türkische Familie Özdemir unterm Dach und wie friedlich es in der Oranienburger Straße doch war, als Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl das Sagen hatten. „Damals. Als det hier noch die Hauptstadt der DDR war.“
„Ja, ja“, stoppte Brandes den Redefluss, ließ die Hand des Mannes los und entspannte sich langsam wieder, verfolgte aber aufmerksam jede Bewegung der Rohrzange. Als Motzke fragte, welche Art Aufträge er denn als Detektiv so bearbeiten würde, schloss er den Briefkasten zu und stapfte, ohne darauf zu antworten, an dem Alten vorbei die Treppe hinauf.
„Sindse bloß vorsichtig“, hörte er ihn rufen. „Nicht datse am Ende Ärjer kriejen, mit die Russenmafia - oder so.“
*
In der ersten Etage hatte Marco Brandes vor wenigen Tagen eine Zweieinhalbzimmerwohnung gemietet, mit einem Erker. Von dort ließ sich die Oranienburger Straße nach beiden Seiten einsehen, ohne die Fenster zu öffnen. Das größere Zimmer diente als Büro, das kleinere war eine Mischung aus Wohn- und Schlafzimmer. Er nannte es Kombizimmer.
Als er den Schlüssel der Korridortür herumdrehte, spürte er wieder dieses Gefühl im Bauch und in der Brust. Warum hatte der alte Motzke vorhin die Russenmafia erwähnt?
Nachdenklich betrat er die Wohnung, schaute ins Kombizimmer, in die kleine Küche, ins Büro. Nichts Auffälliges. Auf dem Schreibtisch wie immer: Computerbildschirm, Tastatur, die Fotos von Mutter und Tante Gertrud, die Dose mit den Büroklammern und die Schale mit den Farbstiften und Kugelschreibern. Alles geordnet wie die Utensilien eines Buchhalters - bis auf die offene Rechnung, die er auf die Tischplatte geworfen hatte.
Er schlurfte zur Schrankwand und verglich den Inhalt der Regale mit den gespeicherten Bildern in seiner Erinnerung, fand auch hier keine Abweichungen. Wegen seines fotografischen Gedächtnisses hatte man ihn in der „Firma“ oft beneidet. Bis jetzt hatte es immer zuverlässig funktioniert. Bis jetzt.
Unschlüssig blieb er vor der Schrankwand stehen, kratzte sich am Hinterkopf, schielte zum Schreibtisch herüber. Irgendetwas war anders. Aber was?
Die Signallampe des Anrufbeantworters blinkte. „Verdammt! Warum hab´ ich die übersehen?“ Hastig drückte er auf die Wiedergabetaste und wartete angespannt. Die Geräusche klangen wie aus einer Telefonzelle an einer belebten Straßenkreuzung. Knacken in der Leitung. Aufgelegt. Kein Wort. Keine versteckte Botschaft. Auf dem Display stand: „1. März 1996, 10:50 Uhr.“
Er schaute auf die Armbanduhr. Acht Minuten vor zwölf. Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Tischplatte.
„Stachynskij! Idiot! Warum meldeste dich nicht noch mal?“
*
Ellen Ackermann saß gern an dem runden Tisch im Esszimmer. Kindheitserinnerungen waren damit verbunden, früher hatte er bei den Großeltern in Freiburg gestanden. Wenn sie nach einem erfolgreichen Studienabschnitt wieder für einige Zeit in Osnabrück wohnte, deckte sie ihn meist liebevoll; auch dann, wenn sie allein frühstückte.
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