„Wissen Sie was, Frau Smits? Mein Vater hat auch ein Recht auf Ruhe und Genesung!“ Sie drehte sich um, ging zum Garderobenhaken, suchte nach etwas in ihrer Handtasche, zog ein Passbild heraus und hielt es Samantha hin. „Das ist wenigstens ein Bild mit Wiedererkennungswert“, fügte sie hinzu. „Nehmen Sie es. Und dann gehen Sie. Bitte!“
Ellens Handbewegung war eindeutig. Sie zog die Tür so weit auf, dass der Sicherheitsbeamte die Situation unmissverständlich erkennen konnte.
„Schade“, sagte Samantha, „aber wenn Ihr Vater selbst wieder Entscheidungen treffen kann, komme ich zurück. Verlassen Sie sich drauf. Immerhin hat er mir vor dem Festakt ein ausführliches Interview versprochen.“ Mit blitzenden Augen rauschte sie an Ellen vorbei auf den Flur.
Dort wurde es erneut laut. Ellen sah, wie vom hinteren Ende des Ganges eine ganze Gruppe Journalisten heranstürmte. Sie umschwärmten mit ihren Kameras und Mikrofonen einen breitschultrigen, hochgewachsenen Mann. Samantha zögerte nur kurz, dann schloss sie sich dieser Gruppe an und kam zurück. Der Sicherheitsbeamte erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich breitbeinig in den Weg.
„Hauptkommissar Brockschmidt vom BKA“, sagte der Mann und streckte ihm einen Dienstausweis entgegen.
Auch das noch! Ellen schob die Tür zu und lehnte sich für einen Augenblick von innen dagegen. Sie atmete erst erleichtert auf, als sie hörte, dass der Hauptkommissar nach Professor Mühlenhofen fragte und sich dessen Zimmer zeigen ließ. Der Lärm auf dem Flur ebbte ab.
Langsam ging sie zu dem Stuhl neben dem Krankenbett, setzte sich und nahm vorsichtig die Hand ihres Vaters. Dabei fiel ihr auf, dass er unruhiger atmete. Auch das Piepen aus den Lautsprechern klang nicht mehr so gleichmäßig. Die Kurven auf den Monitoren verschoben sich, wurden flacher, dann wieder steiler. Berthold öffnete die Augen, schaute verstört hin und her, versuchte sich aufzurichten, sank aber unter lautem Stöhnen sofort zurück aufs Kissen.
„Bleib ruhig liegen“, sagte Ellen und streichelte über sein Gesicht.
„Wo bin ich?“ Berthold starrte seine Tochter mit weit geöffneten Augen an. „Wo ist mein Spickzettel für die Rede?“
Ellen versuchte ihn zu beruhigen, zog den Stuhl näher ans Bett und erzählte ihm, was sie von Trotta, Anke Gödeler und den Ärzten erfahren hatte. Nur, dass Professor Scantlebury tot war, behielt sie für sich. Die beiden kannten sich gut. Das wusste sie, und möglicherweise würde ihn diese Nachricht im Augenblick zu sehr belasten. Als sie ansetzte, ihm von dieser aufdringlichen Journalistin Samantha Smits zu erzählen, klopfte es. Hauptkommissar Brockschmidt stand im Türrahmen.
„Darf ich?“, fragte er leise. „Ich hab ein paar Fragen. Aber nur, wenn´s wirklich schon geht.“
Er kam näher an das Bett. „Guten Tag, Herr Professor. Ich bin Hauptkommissar Brockschmidt vom Bundeskriminalamt.“
„BKA?“, fragte Berthold. „Was wollen Sie denn von mir?“
„Wissen Sie, Herr Professor, bei Anschlägen mit terroristischem Hintergrund, bei Industriespionage, Wirtschaftskriminalität größeren Ausmaßes, werden wir automatisch ...“
„Terroristischer Hintergrund?“, unterbrach Berthold. Das Sprechen fiel ihm schwer. Ellen beobachtete mit wachsender Sorge, wie sich die Kurven auf den Monitoren veränderten.
„Alles noch Vermutungen, Herr Professor“, antwortete Brockschmidt. „Im Augenblick jedenfalls. Kann auch ein durchgeknallter Einzeltäter gewesen sein. Vielleicht ein Anschlag auf den Bischof von Osnabrück, auf Konsul Leberecht, die anwesende Politprominenz. Die ganze erste Reihe in der Aula hat was abgekriegt.“
„Und Mühlenhofen?“, fragte Berthold. „Eigentlich hätte der Präsident auf der Bühne gestanden. Ich musste doch nur als Vize für ihn einspringen. Völlig überraschend.“
„Das haben wir uns auch schon gefragt.“ Brockschmidt nickte mit dem Kopf. „Denn genau neben dem Rednerpult, da hat er gestanden, dieser verflixte Overhead-Projektor. Da war der Sprengstoff drin. So viel ist sicher.“
„Der Overhead ...!“ Es klang wie der Schrei eines Menschen, dem die Kehle zugedrückt wird. Ellen erschrak.
„Und genau die Stange von diesem Dingsda“, hört sie Brockschmidt weitersprechen, „die Stange, wo der Spiegel und die Linse oben dran befestigt sind. Die hat sich mit voller Wucht in den Kopf dieses britischen Professors gebohrt, der auch in der ersten Reihe saß. Zum Glück war der Herr Scantlebury, oder so ähnlich, sofort tot. Er hat nicht viel davon gemerkt.“
„Waas?“ Berthold bäumte sich auf. „Bryan ist tooot?“ Dann sackte er mit weit aufgerissenen Augen zurück in die Kissen.
Das Piepen der Lautsprecher wurde schneller, immer schneller, dann plötzlich langsam. Die gezackten Kurven auf den Monitoren wurden runder, hügeliger, flacher und ähnelten schon fast einem waagerechten Strich. Aus dem Lautsprecher kam ein lang gezogener, schriller Ton.
Ellen sprang auf.
„Das hätten Sie jetzt nicht sagen dürfen!“, raunzte sie den Hauptkommissar an. Sie riss die Tür auf und schrie verzweifelt in den Flur: „Hilfe! Mein Vater stirbt!“
Er schwankte, hielt sich am Treppengeländer fest, blieb stehen, verschnaufte einen Augenblick.
„Keine Müdigkeit, Jenosse Brandes“, trieb er sich wieder an und nahm die letzten Stufen. Als er das Schlüsselloch der Korridortür auf Anhieb traf, schwärmte er: „Siehste, jeht doch. Det Bier im Tacheles is nun mal det beste Sszielwasser.“
Beim Öffnen der Tür entglitt ihm die Tüte, die er die ganze Zeit wie ein Kellner auf der linken Hand balanciert hatte. Erst kurz über dem Boden fing er sie wieder auf. „Det ma bloß nix an die Currywurst kommt.“ Er lachte dabei übertrieben.
Mit zu viel Schwung erreichte er das Arbeitszimmer und stieß dort gegen den Schreibtisch. Die Tüte fiel auf die Platte, riss an der Seite auf. Eine Wurstscheibe rollte heraus, zog in Schlangenlinien eine rote Spur. Brandes kicherte, ging weiter, knipste den Fernsehapparat an, zog sich im Zurückgehen umständlich den Mantel aus, wankte zur Korridortür, stieß sie mit dem Fuß zu und warf den Mantel über den Garderobenständer. Der schwankte ihm entgegen. Er fing ihn auf und drohte mit erhobenem Zeigefinger: „Wer hat hier zu viel jesoffen? Du oder icke?“ Er stellte ihn gerade und schlich an der Wand entlang in die Küche. „Muss noch ´n Bier, damit die Pommes besser flutschen.“ Ein kräftiger Rülpser beendete den Satz.
Es dauerte eine Weile, bis er mit Besteck und geöffneter Bierflasche an seinen Schreibtisch zurückkehrte und das verspätete Abendessen anfangen konnte. Inzwischen hatte im Fernsehen das Nachtmagazin angefangen. Ein Filmbericht aus der thailändischen Hauptstadt Bangkok flimmerte über den Bildschirm. Im Vorfeld des Europa-Asien-Gipfels seien Bundeskanzler Helmut Kohl und Chinas Premierminister Li Peng zusammengetroffen, um über den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zu beraten, erläuterte der Nachrichtensprecher.
„Kiek mal, der Helmut“, lachte er und zeigte mit einigen aufgespießten Pommes frites in Richtung Fernseher, „da strahlt er und schüttelt dem alten Peng die Hand. Und hier bei uns, da kiekt er immer muffig und meckert über die roten Socken.“ Ein Rülpser setzte erneut den Schlussakkord.
Das Thema wechselte. Ein Bild von Konrad Porzner wurde eingeblendet. Wegen Unstimmigkeiten mit dem Kanzleramt habe der Chef des Bundesnachrichtendienstes die Versetzung in den Ruhestand beantragt, und Bundespräsident Roman Herzog habe auf Anraten des Kanzleramtsministers Bohl bereits dem Wunsche Porzners entsprochen.
„Schade“, kommentierte Brandes und spülte sich mit einem kräftigen Schluck aus der Bierflasche den Mund leer. „Die nennen den alle den Glülücklosen von Pullach. Dabei war det echt ´n Glücksfall - für uns, zssumindest. Prost Konni!“
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