Die letzten Monate hatte sie an der Sorbonne in Paris verbracht. Sie erinnerte sich an das quirlige Leben im Quartier Latin, an die Ruhepausen im Jardin du Luxembourg und an die Cafés und Bistros rund um den Boulevard St. Michel. Doch ein Frühstück an dem runden Tisch war mit all dem nicht zu vergleichen.
Ellen hatte sich nach dem Duschen nur einen Morgenmantel übergestreift. Gut, dass er mich so nicht sieht, dachte sie. Er würde sicher wieder mit seinen Ansichten über meinen Lebenswandel nerven. Frühstück kurz vor zwölf? Nackt unterm Bademantel? Und überhaupt: als Professorentochter erst morgens um zehn nach Hause kommen? - Zum Glück wird er im Augenblick andere Dinge im Kopf haben. Die große akademische Feier zum Beispiel, die müsste jetzt ihren Höhepunkt erreichen.
Erinnerungen an Sven drängten sich dazwischen. Sie hatte sich in dem thailändischen Restaurant lächelnd an seinen Tisch gesetzt. Gestern Abend. Sven war groß, sportlich, ein charmanter Plauderer, sah sexy aus. Und er tanzte auffallend gut. Das hatte sich anschließend in der Disco herausgestellt. Nur in der Liebe war er nicht besonders fantasievoll. Da fehlte das französische Element. Das war deutsche Hausmannskost mit spürbarem Drang zum Leistungssport. Sie lächelte. Wie hieß Sven eigentlich mit Nachnamen?
Ellen belegte die letzte Brötchenhälfte mit einer großen Scheibe Zungenwurst. Im Radio begannen die Mittagsnachrichten. Hauptthema: die Bonner Querelen über die ausufernden Umzugskosten in die neue Hauptstadt Berlin. Dann hörte sie plötzlich:
„Osnabrück. In der Aula der Fachhochschule Osnabrück ist während des Festaktes zur Fünfundzwanzig-Jahr-Feier ein Sprengkörper explodiert. Nach unbestätigten Meldungen hat es Tote und zahlreiche Verletzte gegeben. Über die genaue Ursache liegen noch keine Erkenntnisse vor.“
Sie sprang auf. Kaffee schwappte aus der Tasse.
„Oh Gott! Hoffentlich ist ihm nichts passiert!“
Sie rannte zum Telefon, wählte die Nummer der Hochschule, verwählte sich, versuchte es noch einmal.
Besetzt!
Unschlüssig lief sie in dem Esszimmer hin und her, dann zum Tisch, wischte mit einem Handtuch die Kaffeepfützen weg, blieb ratlos stehen.
Das Auto! Damit könnte ich hinfahren. Sie kämpfte mit tiefen Atemzügen gegen die aufkeimende Panik. - Geht nicht. Das Auto hat er mitgenommen.
Sie lief ins Gästezimmer, kleidete sich an, blieb vor dem Garderobenspiegel stehen, schob mit den Händen die hellblonden Haare halbwegs in Form, schlüpfte in den Mantel und verließ eilig die Wohnung. Den Schlüssel hatte sie rechtzeitig vor dem Zuschnappen der Tür zu fassen bekommen.
„Lieber Gott“, flehte sie, während sie die geschwungene Treppe hinunter stürmte. „Lass mir wenigstens meinen Vater!“
*
Brandes trommelte immer noch nervös auf der Tischplatte. Der Rhythmus änderte sich, geriet ins Stocken, wurde wieder heftiger, dann stoppte er abrupt. Er öffnete die Schreibtischschublade, rechts unten, zog eine angebrochene Weinbrandflasche heraus und trank einen kräftigen Schluck. Mit der Hand wischte er über den Mund, schraubte die Flasche zu und ließ sie in die Schublade zurückrollen.
„Stachynskij! Melde dich! Verdammt!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Nach kurzem Zögern stand er auf, lief im Zimmer nervös umher, blieb stehen, starrte auf den Schreibtisch unten rechts. „Kein Schnaps mehr!“
Er schlurfte in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und ließ den kalten Strahl abwechselnd über den Puls beider Arme laufen. Danach formte er die Hände zu einer Mulde, trank daraus und verteilte das restliche Wasser prustend über Gesicht und Haare. Als er mit dem Kopf wieder hochkam, sah er sich im Spiegel. Eine unausgeschlafene Fratze starrte ihn an, mit dicken Falten auf der Stirn und Säuferaugen. Und dann dieser nasse, fettige Lockenwust und dieser hässliche Grauschimmer über den Schläfen. „Wie ein Schimmelpilz breitet der sich aus!“
Brandes sah an seinem schmuddeligen Hemd herab und auf die ausgebeulten Hosenbeine. Was hatte Oberst Warnke immer gesagt, wenn sie sich in der „Firma“ auf dem Flur begegnet waren? „Wie Sie mal wieder rumloofen, Jenosse Brandes.“
Der alte Warnke. Was der wohl jetzt macht? Nach der Wende war er spurlos verschwunden, wie die meisten aus dem Gebäudekomplex in der Normannenstraße. Bis auf die paar, die im Knast plötzlich wieder aufgetaucht waren. Denunziert und verraten - von den eigenen Leuten!
Stachynskij, dieser Filou! Ja, auf den war wenigstens Verlass. Meistens jedenfalls. Wenn der nicht gewesen wäre mit seinen obskuren Aufträgen. Und Bärbel, dieses unersättliche Weib. Die ganze Nacht hat sie mich wieder ...
Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Er rannte zum Schreibtisch, griff mit nassen Händen zum Hörer: „Ja?“
Er wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung war. Das Rauschen im Hintergrund und die näselnde Stimme. Sie klang nervöser als sonst: „Besuch ausgefallen. R16. Beeil dich!“ Aufgelegt. Keine drei Sekunden hatte es gedauert. Es war etwas schief gegangen. Jetzt musste gehandelt werden.
Er zog den vorbereiteten Brief aus der Schreibtischschublade, trank vor dem Zukleben hastig einen Schluck aus der Flasche. Dann griff er Diktiergerät, Fotoapparat, Teleobjektiv und schob nach kurzem Zögern noch die Pistole in den Gürtel. Sorgfältig schloss er die Wohnungstür hinter sich ab.
*
Mit wehendem Mantel rannte Ellen von der Katharinenstraße zum Heger-Tor-Wall. Dort war ein Taxistand und schräg gegenüber eine Haltestelle für Busse in Richtung Westerberg. Daran erinnerte sie sich.
Auf der anderen Straßenseite des Walls staute sich der Verkehr vor einer Ampel. Mitten in der Schlange entdeckte sie ein Taxi. Sie streckte beide Arme hoch, lief über die Fahrbahn, über den breiten Mittelstreifen und erreichte das Taxi, bevor die Ampel auf Grün wechselte. Hastig öffnete sie die Beifahrertür und sprang ins Auto.
„Fachhochschule, Westerberg!“, sagte sie und zog die Tür zu.
„Langsam, langsam.“ Der alte Taxifahrer musterte sie über den Rand seiner Brille.
„Fahren Sie doch los, bitte!“
„Fachhochschule? Hoffentlich kommen wir da überhaupt hin. Die IRA soll mal wieder ´ne Bombe ..., habe ich über Funk ...“
„Bitte!“ Ellen hatte Tränen in den Augen.
Der Mann schüttelte den Kopf, fädelte sich aber doch mit seinem Diesel in den Verkehr Richtung Lotter Straße ein.
Je näher sie dem Westerberg kamen, umso öfter sahen sie Krankenwagen mit Blaulicht. Ellen hörte am Funkgerät sogar mit, wie die Taxifahrer im Stadtgebiet aufgefordert wurden, sich für den Transport von Leichtverletzten bereitzuhalten.
„Ja? Zentrale? Hier ist Manne“, sagte der Alte in sein Handmikrofon. „Bin schon auf dem Weg.“
Hinter der nächsten Kreuzung begann ein Stau. Die Polizei hatte eine Straßensperre errichtet. Das Taxi scherte nach links aus und fuhr an den stehenden Autos vorbei, bis es von einem Polizeibeamten angehalten wurde. Der Fahrer kurbelte das Seitenfenster herunter.
„He, Meister. Lass uns mal da durch. Ich wurde über Funk angefordert. Soll Verletzte an der FH abholen.“
Der Polizist schob wortlos die Sperre zur Seite und winkte das Taxi durch. Der Fahrer grüßte militärisch und kurbelte das Fenster wieder zu.
„Na, geht doch“, brummte er zufrieden und jagte seinen Diesel auf dem freien Straßenstück den Berg hinauf.
Als sie sich der Bergkuppe näherten, fragte Ellen: „Wie haben sie das vorhin gemeint mit der IRA?“
Er schaute sie irritiert an. „Sind nicht von hier, wie? Osnabrück ist einer der größten britischen Militärstandorte im Norden. Es hat in den letzten Jahren schon mehrfach Anschläge auf die Kasernen gegeben.“
„Und was hat das mit der Fachhochschule zu tun?“
„Die Fachhochschule ist doch in die frei gewordenen Teile der britischen Kasernen eingezogen, als die Tommies ab sind nach Jugoslawien. Frischer Inschenörnachwuchs wird da jetzt gemacht, wissen Sie? Ist ja eigentlich besser so. - Aber wer weiß? Vielleicht war das auch gar nicht die IRA. Laufen doch genug Verrückte rum in Osnabrück.“
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