„ Sie haben von der merkwürdigen Atmosphäre hier gesprochen.“ Samantha trank noch mal an ihrer Schokolade. „Aber ist das hier nicht geradezu ein idealer Ort, um sich klar zu werden, wie nahe oft Vernunft und Wahnsinn, oder sagen wir Intelligenz und Schizophrenie, beieinander sind?“
Brockschmidt beugte sich über seinen Kaffee. „Der Verrückte, der uns die Wahrheit verkündet? - Meinen Sie das?“ Samantha sah sein mitleidiges Lächeln.
„Sagen wir besser: Der Narr, der uns den Spiegel vor die Augen zwingt. Er hatte übrigens Bücher von Robert Jungk auf dem Nachttisch: Der Atomstaat, Heller als tausend Sonnen.“
„Hier geht es um Sprengstoff, Frau Smits! Vergessen Sie das nicht. Sprengstoff in einem Overheadprojektor. Es gab Verletzte und einen Toten.“
„Richtig“, entgegnete Samantha. „Aber haben Overheadprojektoren nicht auch so eine Art Spiegel? Von Wissenschaftlern liebend gern genutzt, um ihre eitlen Weisheiten möglichst einprägsam zu verbreiten? Manchmal glaube ich, die Leinwand kann ihnen dabei nicht groß genug sein.“
„Und mit solchen Gedanken im Kopf wollen Sie jetzt Ihre Story ...?“
Brockschmidt brach die Frage ab. Sein Handy piepte in der Jackentasche. „Entschuldigung“, sagte er und stand auf.
Samantha hörte, wie er auf dem Weg zum Ausgang sagte: „Verdachtsmomente? Ja. Zahlreiche. Aber der kann es unmöglich allein gewesen sein. ... vorsichtshalber, in die forensische Abteilung, damit er nicht ...“ Dann konnte sie nichts mehr verstehen. Die Tür fiel hinter ihm zu.
Sie trank den Rest ihrer Schokolade, stand auf und schritt zur Kasse. Schließlich habe ich ihn ja eingeladen, dachte sie. Als Dank für die Rettung, gewissermaßen. Erst jetzt fühlte sie den Schmerz am rechten Handgelenk und in der Schulter wieder. War ein harter Einsatz. Aber so ist das, wenn man seinen Job ernst nimmt. Sie verließ das Café, um sich draußen von Brockschmidt zu verabschieden.
*
Ellen erschrak, als sie die Klingel hörte. An diesen schrillen Ton hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. Sie schaute auf die Armbanduhr.
„Halb drei? So früh am Nachmittag?“
Es klingelte zum zweiten Mal und kurz danach wieder.
„Unverschämt hartnäckig“, murmelte sie und erhob sich gemächlich von dem Sofa; sie hatte sich dort mit einer Wolldecke und einem Buch von Remarque bequem hingelegt: Arc de Triomphe, - Paris am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, wie es der emigrierte Arzt Ravic erlebte. Sie wollte es rückblickend vergleichen mit den noch frischen Erinnerungen an das Paris der letzten Monate. Ihre Stimme klang ungehalten, als sie ihr „Ja, bitte?“ durch das Türtelefon fragte.
„Hauptkommissar Brockschmidt. Guten Tag. Darf ich?“
„Moment“, sagte Ellen, hängte den Hörer ein, betrachtete sich kurz in dem großen Garderobenspiegel, zupfte die gekräuselten Haarsträhnen zurecht, schob den Pullover ordentlich über die Jeans und drückte auf den Türöffner.
Brockschmidt war schnell. Er musste auf der Treppe zwei Stufen auf einmal genommen haben, denn er stand vor der Korridortür in der ersten Etage, als sie sie öffnete.
„Entschuldigung, wenn ich bei Ihnen so unangemeldet hereinplatze“, sagte er. „Aber, da ich heute noch zurück nach Wiesbaden muss, wollte ich mir vorher wenigstens einen kleinen Eindruck von ...“
„Suchen Sie den Attentäter hier?“, unterbrach sie.
„Sollte ich?“ Brockschmidts Stimme klang nicht weniger provozierend, und Ellen fiel auf, wie aufmerksam er sie mit seinen Blicken abtastete. Obwohl sie es sonst genoss, wenn sich fremde Männeraugen länger als üblich auf ihre Beine, den Busen und die Lippen richteten - diesmal spürte sie eher ein diffuses Unwohlsein.
„Kommen Sie erst einmal herein“, sagte sie deshalb, ohne auf seine Frage einzugehen. Sie nahm ihm den Mantel ab, hängte ihn auf einen Bügel und zeigte dann mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. "Oder möchten Sie die Hausbesichtigung lieber woanders beginnen?"
„Nein, nein“, wehrte Brockschmidt lachend ab. „Ich richte mich da ganz nach Ihnen.“ Und als sie im Wohnzimmer standen, einen Augenblick unsicher, wie es weiter gehen soll, fügte er hinzu: „Wenn es Sie beruhigt, ihr Name befindet sich nicht auf meiner Liste der Verdächtigen, Frau Ackermann. Im Gegenteil: Ich möchte Sie für eine Zusammenarbeit gewinnen.“
„So, möchten Sie.“
„Ich denke, es ist auch in Ihrem Interesse.“
„Und wie stellen Sie sich das vor?“
„Nun, Sie zeigen mir, wie ihr Vater so lebt, sein Arbeitszimmer zum Beispiel. Er hat doch eins? - Und Sie erzählen mir etwas über ihn: Was Ihnen dazu einfällt, oder was Sie in der jetzigen Situation für wichtig halten.“
„Gehen wir ins Arbeitszimmer.“
Sie beobachtete, dass Brockschmidt sehr genau die moderne, etwas futuristisch anmutende Einrichtung aus Glas, Metall und Holz registrierte.
„Vermutet man gar nicht in so einem Haus aus der Jahrhundertwende“, sagte er erstaunt. „Und schon gar nicht, wenn man zuvor die alten Gründerzeit-Möbel im Wohnzimmer gesehen hat, die Gardinen, Teppiche und die verspielte Garderobe im Flur.“
„Aber so ist mein Vater: Widersprüche, Gegensätze, das auf den ersten Blick Unvereinbare oder Unmögliche zieht ihn an, betrachtet er als Herausforderung, versucht er irgendwie in einer neuen Lösung zusammenzubringen.“
„Harmoniesüchtig?“
„Keineswegs. Eine Kämpfernatur, wenn es seine Ziele und den wissenschaftlichen Fortschritt betrifft.“
„Und privat? Als Vater?“
„Hätten Sie mich das vor zehn Jahren gefragt: Ein Tyrann, ein Besserwisser, ein - ach, alles in dieser Art! Aber bloß keiner, der auf Harmonie oder Familienfrieden bedacht war.“ Ellen lachte dabei zum ersten Mal.
„Und jetzt?“
„Seit ich aus dem Hause bin, seit meinem Studienbeginn, verstehen wir uns besser. Er ist im Grunde feinfühlig und ...“
„Entschuldigung, ich unterbreche Sie nur ungern.“ Kommissar Brockschmidt zeigte auf ein Bild, das an der einzigen nicht mit Bücherregalen bedeckten Wand hing. „Ist das ein Hopper?“
„Sie meinen den einsamen Mann an der Tankstelle? - Ja, das Bild ist von Edward Hopper. Aber kein Original.“ Ellen lachte wieder. „So viel verdient er als Professor auch wieder nicht.“
„Eine hervorragende Reproduktion.“
„Woher dieses Kunstverständnis, Herr Brockschmidt? Das Bild stammt immerhin aus den vierziger Jahren.“
„Meine Schwester lebt in Boston. Durch sie bin ich auf Hopper aufmerksam geworden. Ich habe sie oft besucht, bin mit ihr und ihrem Mann kreuz und quer durch Neuengland gestreift: New Hampshire, Connecticut, Massachusetts, Rhode Island, und, und, und.“
„Vater hat einige Jahre in Hartford gelebt und bei Pratt & Whitney gearbeitet. Forschungsabteilung für Flugzeugtriebwerke. Das Bild ist ein Abschiedsgeschenk der Kollegen. Ist ihm sehr wichtig.“
„Hat er mal erklärt, warum?“
„Ja. Hopper hat, so sagte er öfter, die Einsamkeit des Menschen in der modernen Industriegesellschaft, die Entfremdung, so einfühlsam in Bildsprache umgesetzt, so eindrucksvoll wie kaum ein anderer moderner Maler.“
„Ist ihr Vater ein einsamer Mensch?“
„Sicher nicht. Aber damals vielleicht. Er ging kurz nach dem Tod meiner Mutter, sie starb durch einen tragischen Verkehrsunfall, in die Staaten. - Eine Zeit, über die er nicht gerne spricht.“
„Und Sie? Wo waren Sie?“
„Ich bin in Freiburg aufgewachsen, bei seinen Eltern - bis zum Tod meiner Großmutter. 1984 ist sie gestorben. Da ist er zurückgekommen, hat hier die Professur angenommen und mich nach Osnabrück geholt.“
„Glauben Sie,“ Brockschmidt drehte sich um und bewegte sich auf die Tür zu, „glauben Sie, ihr Vater hat Feinde?“
Ellen ging hinter ihm her, blickte nachdenklich auf den Fußboden und antwortete: „Ich kann es mir nicht vorstellen. Er hat nie eine Andeutung gemacht.“ Sie blieb stehen, strich mit den Händen durch ihre Haare und fuhr dann fort: „Andererseits bin ich zu selten in Osnabrück, um diese Frage hinreichend beantworten zu können. Vielleicht sollten Sie besser seine Kollegen in der Hochschule fragen.“
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