Der Vornehme zog eine Drahtschlinge aus seiner Jackentasche und ließ sie langsam vor Brandes Gesicht baumeln, so als wollte er ihn gleichzeitig warnen und hypnotisieren.
Scheiß auf die drei Tausender, dachte Brandes, während seine Augen der Drahtschlinge folgten. Dass der Auftrag gefährlich war, hätte ich mir denken können. Und Stachynskij ist eben ein Schlitzohr. Schon damals, als er noch für Schalck-Golodkowski krumme Geschäfte einfädelte, mit Ost und West gleichzeitig. Stachynskij war nicht einmal sein richtiger Name.
„Wo ist der Film?“ Der Vornehme riss ihn mit scharfer Stimme aus seinen Gedanken, spannte die Drahtschlinge zwischen den Händen, zupfte mit dem kleinen Finger daran und hielt sie so an das Ohr, das Brandes die Schwingungen deutlich als hohen Ton wahrnahm.
Brandes sagte kein Wort. Aber in seinem Kopf hämmerten die Gedanken: So will ich nicht sterben! So nicht. Und wenn das Leben noch so beschissen ist: Genau an diesem jämmerlichen Rest, an dem hänge ich. Und zwar sehr!
„Wo?“
„Im Kühlschrank“, sagte er mit gepresster Stimme.
„Wo genau?“
„Im Gemüsefach, zwischen den Salatblättern.“ Schade um das gute Versteck, dachte er im Stillen weiter. Aber wenn´s nur diese Chance gibt? Solche Typen fackeln nicht lange.
Der Dürre verschwand lachend in der Küche. Brandes hörte ihn, wie er mit lautem Getöse den Kühlschrank aufriss, die Gemüseschale und andere Teile polternd auf die Erde warf.
„Ha!“, hörte er kurz danach einen freudigen Aufschrei. Und schon sah er den Dürren triumphierend mit dem schwarzen Filmdöschen im Türrahmen stehen. „Ha!“, rief er noch einmal und zeigte dabei seine unförmigen gelben Zähne.
Der Vornehme rollte die Schlinge zusammen, nahm das Filmdöschen, hob den Deckel kurz ab, schob seinen kleinen Finger hinter vorgehaltener Hand hinein und lächelte zufrieden. Dann steckte er alles in die Tasche und sagte:
„Wenn die Bilder gut sind, hören Sie von uns. Wenn da was anderes drauf ist, hören Sie erst recht von uns. Herr Brandes!“ Die letzten beiden Wörter betonte er drohend.
„Und denk dran: Borris findet dich!“, hörte Brandes den Dürren sagen. Dann fühlte er einen stechenden Schmerz am Kinn, seine Kieferknochen schlugen gegeneinander, der Kopf flog nach hinten. Ihm war, als hätte jemand das Licht ausgeknipst.
*
Er wollte aufstehen. Doch die Füße versagten. Er wollte sich mit den Händen abstützen. Es ging nicht. Brandes stemmte sich mit ganzer Kraft gegen alles, was ihn am Fortgehen hinderte. Er strampelte mit den Füßen, dehnte und streckte sich. Der Gedanke, ein Gefangener zu sein, machte ihn rasend. Er kam nicht von der Stelle. Der Kopf schmerzte und besonders sein Kinn.
Dann gelang es ihm doch, die verklebten Augen einen Spalt zu öffnen, und er sah sein durchwühltes Zimmer. Und nach und nach bemerkte er die feine Kunststoffschnur, mit der man ihn auf seinem Bürostuhl festgezurrt hatte. An den Handgelenken, die auf dem Rücken zusammengebunden waren, schnitt sie schmerzhaft in die Haut.
Ganze Arbeit, dachte Brandes. Profis. Hätten mich auch sofort umlegen können. Aber die stehen wohl eher auf langsamem Tod. Mord auf einem gottverdammten Bürostuhl! Durch Austrocknen. Verhungern. Oder so ähnlich.
Mit den zusammengebundenen Füßen konnte er den Boden berühren und sich schubweise ein wenig abstoßen. Die Rollen unter dem Stuhl bewegten sich schwerfällig auf dem Teppichboden. Er kam nur langsam weiter, Zentimeter, manchmal nur Millimeter.
„In der Küche, auf dem Linoleum, wird es leichter sein“, flüsterte er sich Mut zu. „Und in der Höhe, in der die Hände gefesselt sind, müsste es mit etwas Geschick möglich sein, an die Besteckschublade mit den Messern zu gelangen.“
Die Küchentür stand offen. Aber davor versperrten auf dem Fußboden mehrere Regalbretter und Aktenordner das Weiterrollen. Die Ordner ließen sich zur Seite schieben, aber die Bretter hatten sich ineinander verkeilt. Außerdem rutschte Brandes mit seinen Strümpfen immer wieder auf der glatten Oberfläche ab. Er versuchte es mit Gewalt, stemmte sich gegen den Türpfosten und drückte die Rollen ruckweise gegen die Bretter, immer wieder. Sie gaben etwas nach. Aber dann schwankte der Stuhl. Brandes verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten, stieß mit dem Kopf gegen die Tür, rutschte nach unten und lag auf dem Rücken in der Küche.
„Au! Verdammt!“, schrie er. Seine Finger waren zwischen Rückenlehne und Fußboden eingeklemmt. Wie eine hilflose Schildkröte kam er sich vor und jeder Versuch, durch Gewichtsverlagerung auf die Seite zu rollen, erzeugte höllische Schmerzen in den Fingern und Handgelenken. Wenn da nicht schon was gebrochen ist, dachte er.
Er biss die Zähne zusammen, hielt den Atem an und versuchte es noch einmal. Zuerst nach rechts. Dann nach links. Über die Hände hinweg. Und noch einmal. Es gelang ihm erst nach mehreren Versuchen, auf die Seite in eine stabile Lage zu rollen. Er bewegte die Handgelenke und die Finger. Sie schmerzten entsetzlich, aber er spürte sie. Sie waren nicht taub. „So kann ich det aushalten, zumindest fürs Erste“, sagte er leise. „Auch im Koppe. So jeht det.“
Das Blut pochte in den Schläfen und ihm war, als würden die Gedanken wie in einem riesigen Strudel immer schneller kreisen: Man müsste sie alle umbringen. Alle! Die ganze Brut: CIA, MAD, BND, MI6 und wie sie heißen. Sonst hört det nie auf. Sein Kopf dröhnte: Observieren, sabotieren, spionieren. Wachsam sein immerzu.
Mit einem Male war er hellwach. Er spürte, dass sich die stramme Kunststoffschnur etwas gelockert hatte, und je mehr er sich von der Sitzfläche nach oben bewegte, umso lockerer wurde sie. Er drückte noch einmal mit den Knien von unten dagegen und zog gleichzeitig die Arme und Schultern hoch. Das war die Lösung! Die Rückenlehne lief nach oben konisch zusammen. Mit etwas Geduld müsste es gelingen, sich aus den Fesseln herauszuwinden.
Brandes schob und drückte, rekelte und streckte sich. Aber es gelang nicht so leicht, wie er gehofft hatte. Der Dürre hatte ganze Arbeit geleistet und die Schnur in zahlreichen Windungen gewickelt; wenn die unteren nicht gleichmäßig mit nach oben gedrückt wurden, zogen sie sich auseinander und alles wurde wieder stramm. Außerdem schmerzte der linke Arm, auf dem das ganze Körpergewicht ruhte.
„Scheiße!“, fluchte Brandes und blieb einen Augenblick erschöpft liegen. Es war ihm, als würde das ganze Gebäude seiner halbwegs sortierten Gedanken zusammenbrechen. Alles wirbelte durcheinander. Im Augenblick geht aber auch alles schief, dachte er: Stachynskij tot. Auftrag im Eimer. Drei Tausender futsch. Das Auto lahmgelegt. Und bei Bärbel krieg ich ihn nich mehr so steif wie früher.
Dann versuchte er wieder, nach oben zu rutschen. Zentimeterweise arbeitete er sich weiter. Der linke Arm war das größte Problem. Er konnte ihn kaum bewegen. Nach zehn Minuten musste er wieder eine Pause einlegen. Die Kleidung war schweißnass. Die Haut juckte. Er atmete wie nach einem langen Dauerlauf, kam sich ziemlich elend vor.
Ackermann! Wie ein Blitz schoss ihm wieder dieser Name durch den Kopf. „Dieser verdammte Ackermann!“, schimpfte er. „Der ist an allem Schuld! Hätte der sich damals nicht zwischen Gisela und mich gedrängt, müsst ich jetzt nicht auf dem Fußboden liegen, in dieser gottverdammten Küche hier, zwischen Salatblättern, aufgeplatzten Joghurtbechern und Ketchup-Flaschen - gefesselt und gedemütigt. Alles wäre anders! Mit Gisela hätte ich sogar den Absprung geschafft.“
Das Bild aus Bad Ems: Er fühlte es in seiner Jackentasche; er sah es vor sich. Ja, so müsste es werden, genau so: Ackermann, der elende Bettler. Und ich, der Millionär!
Brandes spürte, wie sein Herz zu rasen anfing, während er sich in Gedanken die Situation und die weiteren Schritte ausmalte. Irgendwie war es gar nicht so verkehrt, dass Ackermann bei dem Bombenanschlag nicht draufgegangen ist. Ein Wink des Schicksals! Vielleicht komm ich jetzt an seine Forschungsunterlagen, jedenfalls solange er in irgendwelchen Kliniken festgehalten wird. Neue Keramikbeschichtung in Flugzeugtriebwerken? Det wird sicher fürstlich bezahlt. Und wie sagt der pfiffige Bauer? Nur lebende Kühe kann man melken! Det ist die Chance! Die muss genutzt werden, bevor da wieder ein anderer ins Handwerk pfuscht.
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