Brandes liebte ihre Art zu sprechen, diese Mischung aus Bayerisch mit Berliner Akzent und den gelegentlichen Ausflügen in das steife mit der Zunge angestoßene norddeutsche „Es-Te“. Bärbel konnte sich hervorragend auf ihre Kunden einstellen. Notfalls sprach sie sogar ganz vornehm und mit akademischen Fachausdrücken. „Kundenorientiertes Einfühlungsvermögen“ nannte sie das. „Die Spezialität meines Hauses ist das ganzheitliche Bumsvergnügen.“
Sie brachte den Kamillentee. „Zwieback hab ich nicht, mein Lieber. Tut´s auch Knäckebrot? Oder magst lieber Butterkeks?“
„Egal. - Nein, Keks.“
„Ziemlich wortkarg biste heute.“ Sie reichte ihm die Keksdose, setzte sich zu ihm auf das Sofa und streichelte über seine Schenkel. „Was ist los?“
Brandes erzählte, während er den heißen Tee schlürfte, sein Erlebnis mit der Polizei und, dass sein Auto wohl stillgelegt werden würde, weil er sich im Moment keine neuen Reifen leisten könnte.
„Und wie viel brauchste dafür?“, fragte sie und zog einen Fünfhunderter aus der Seitentasche ihres Negligés. „Hier nimm. Oder reicht das nicht?“
Brandes wehrte ab.
„Komm, zier dich nicht so. Hast mir auch schon oft geholfen. Da! Nimm!“
Zögernd faltete er den Geldschein zusammen und schob ihn in die Jackentasche. Dabei blieb sein Blick starr auf die Keksdose gerichtet.
„Vielleicht sollte ich dir, statt Reifen, besser ´n ganzes Auto kaufen“, sagte sie und lächelte herausfordernd. „So ´n ganz flotten Flitzer. Weißt du, so einen mit Funkgerät oder so ´nem Autotelefon. Dann kann ich dich schnell mal anbimmeln, wenn ich Lust kriege.“ Dabei streichelte sie wieder herausfordernd über seine Schenkel.
„Haste denn Lust auf mich? So zwischendurch mal?“
Bärbel sagte nichts, stand betont langsam auf und öffnete mit verführerischer Pose ihr Negligé, tänzelte zur Stereoanlage, drückte auf einen Knopf, und während aus den Lautsprechern leise die Hammondorgel mit dem Lied „Je t`aime“ einsetzte, ließ sie nach und nach ihre Hüllen nach unten gleiten. Nur mit Strapsen und Strümpfen bekleidet kam sie zum Ledersofa zurück.
Speck hat sie um die Hüften gekriegt, dachte Brandes. Aber so janz ohne Griffleiste, det is ooch nix. Und dann griff er beherzt zu. Bärbel quietschte vor Vergnügen.
*
Die schwere Haustür knallte wie gewohnt ins Schloss. Aber das Licht im Treppenhaus schaltete sich nicht an. Brandes beschlich sofort wieder dieses Gefühl, das ihn schon seit Tagen beunruhigte, wenn er in seine Wohnung zurückkehrte. Er drückte erneut auf den Schalter. Es blieb dunkel. Blitzschnell lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Tür, hielt den Atem an und lauschte gespannt in den Hausflur.
Langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Der Schimmer der Straßenlampen, der durch das gelbgrüne Oberlicht über ihn hinweg auf die Fußbodenfliesen schien, ließ das Rautenmuster gespenstisch aufleuchten. Die schwarzen Kacheln erschienen wie ausgestanzte Löcher inmitten eines Netzes aus phosphoreszierenden Fäden. Brandes fing an, die Löcher zu zählen und dachte dabei: Wenn sich am Ende nichts bewegt hat im Treppenhaus, denn war´s wieder bloß blinder Alarm.
Er wartete noch einen Augenblick. Eine Straßenbahn fuhr vorbei. Dann zog er die Schuhe aus und schlich vorsichtig die Treppe hinauf, immer darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, um beim kleinsten fremden Rascheln sofort reagieren zu können.
Es blieb still. Auch als er den Schlüssel vorsichtig herumdrehte, die Korridortür öffnete und mit angehaltenem Atem die Wohnung betrat.
Plötzlich strauchelte er. Es war, als würde ihm jemand den Teppich unter den Füßen wegreißen. Er konnte sich nicht halten, fiel auf den Boden, und dann hörte er es auch schon: Dieses kalte Klicken, wenn der Hahn eines Revolvers gespannt wird. Er hörte es zusammen mit dem Zuschlagen der Wohnungstür. Aber er wusste genau, es waren zwei Geräusche.
Jemand sprang auf ihn, drückte mit aller Gewalt ein spitzes Knie in den Rücken und drehte ihm den rechten Arm nach hinten. Gleichzeitig spürte er, wie seine Füße umwickelt wurden, blitzschnell. Es waren mindestens zwei Personen, die sich mit ihm beschäftigten. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
*
Der Schmerz war unerträglich. Er zog vom Hinterkopf durch das Rückenmark bis in die Hüfte und von dort durch beide Oberschenkel bis in die Zehen. Langsam wich der Schleier aus dem Gesichtsfeld. Die Stimmen der zwei Männer hatte er schon längere Zeit gehört, auch den russischen Akzent des einen. Der andere sprach sehr leise.
Brandes merkte jetzt, dass sie ihn auf seinem Schreibtischsessel festgebunden hatten, die Hände auf dem Rücken. Sein Zimmer war total verwüstet: die Regale von der Wand gerissen, die Matratze seiner Liege aufgeschlitzt, die Seitenfächer des Schreibtisches ausgeräumt. Nur die kleine Schublade unter der Schreibplatte, in der er unter anderem die Pistole aufbewahrte, schien unangetastet. Schließlich saß er unmittelbar davor.
„Err macht Augen auf“, hörte er den einen sprechen, einen dürren Kerl mit ungepflegten Bartstoppeln, langen Haaren und einem fleckigen Mantel. Er kam auf Brandes zu, klatschte mit beiden Händen gleichzeitig gegen seine Wangen. „Häii!“, schrie er dabei. „Mach Augen auf, ganz weit. Und Ohrren. Damit du alles gut gucken und hörren, was Borris will von dirr.“
Brandes schaute an ihm vorbei. Der Mann auf dem alten roten Ledersessel neben dem Fenster interessierte ihn mehr. Er war elegant gekleidet, trug einen dunklen Anzug und glänzende Lederschuhe. Seinen Tuchmantel hatte er akkurat über die Lehne gehängt.
„In die Augen sollst du Borris gucken!“, schimpfte der Dürre und schlug Brandes ins Gesicht.
Marco schüttelte sich, holte tief Luft und schrie auf Russisch: „Lass das, du Ratte!“ Und dann leiser, schon fast höflich und in perfektem Russisch an den Mann im Sessel gewandt: „Wenn Sie Informationen von mir möchten, mein Herr, müssen Sie mich schon direkt fragen. Am besten, bevor ...“, und jetzt wurde er wieder lauter und schaute seinem Gegenüber scharf in die Augen, „... bevor mich dieses Scheusal hier in Stücke zerlegt!“
Der Dürre schnaufte vor Wut, holte mit seinem rechten Arm weit hinter sich aus und wollte gerade losschlagen, da rief der Mann im Sessel: „Stoy!“, und fügte noch etwas hinzu, das Brandes nicht verstand. Dieser Dialekt war ihm fremd. Der Mann redete plötzlich, während der Dürre langsam und widerwillig seinen Arm nach unten sinken ließ, in fast akzentfreiem Deutsch weiter: „Sie haben gestern gegen vierzehn Uhr ein Geschäft in der Charlottenburger Kantstraße fotografiert. Warum?“
„Ich fotografiere leidenschaftlich gern.“
„Geschäfte oder Menschen?“
„Manchmal beides.“
„Und wer bezahlt Sie dafür?“
„Kommt drauf an.“
„ Wer habe ich gefragt! Wer ist ihr Auftraggeber?“
„Muss ich einen haben?“
Der Dürre trat näher an Brandes heran, beugte sich über ihn und grinste mit weit geöffnetem Mund. Sein Körpergeruch war unerträglich. Von dem Mundgeruch wurde Brandes übel. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er begann zu würgen. Als der Dürre das sah, drückte er mit seiner Hand auf den Kehlkopf, immer kräftiger, immer fester. Vor Brandes Augen drehte sich plötzlich alles.
Dann ließ er wieder los und trat einen Schritt zurück. Brandes schnappte nach Luft.
„Stachynskij“, hörte er den Mann im Sessel sagen. „Ihr Auftraggeber ist Stachynskij. Stimmt’s?“
Brandes schwieg.
Der Mann stand auf, schob den Dürren beiseite und sagte siegessicher: „Stanislav Stachynskij können Sie vergessen. Den gibt´s nicht mehr.“ Dabei streifte er sorgfältig seine Lederhandschuhe glatt.
Brandes erschrak. Stachynskij tot?
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