Als hätten sich die nur geflüsterten Worte auf die Reise begeben, zog der Polizist ein kleines Gerät aus der Tasche, beugte sich hinter dem Fahrzeug nach unten und kam nach kurzer Zeit hoch. Er schrieb wieder etwas auf seinen Block, riss das oberste Blatt ab und schob es unter den Scheibenwischer.
„Det war’s dann, Alter!“, sagte sich Brandes. „Von jetzt an observieren aus der Straßenbahn, Verfolgungsfahrten mit dem Doppeldecker: So wird die Arbeit zu ´ner richtigen Herausforderung!“
Im selben Augenblick fühlte er sich beobachtet. Der Polizist hinter dem Lenkrad schaute ihn geradewegs an, als er wieder einmal seinen Kopf um die Hausecke geschoben hatte. Brandes sah, wie er seinem Kollegen zuwinkte und den Motor startete.
Jetzt wird’s eng, dachte er und sprintete los, an der Häuserfront der Oranienburger Straße entlang, immer mit einem Blick nach hinten. Noch sah er den Streifenwagen nicht. Er rannte an seiner Haustür vorbei. „Bloß nicht in die Falle springen! Die Adresse haben sie sicher schon per Funk abgefragt.“ Er lief, als ginge es um sein Leben. Einige Passanten sprangen entsetzt zur Seite, drehten sich kopfschüttelnd um.
„Bis zur Ecke Auguststraße muss ich es schaffen! Nur nicht wieder in den Knast.“ Er keuchte. „Scheiß Alkohol! Schlapp hat er dich gemacht, Jenosse Brandes! Gleich fällste tot um.“
Er biss die Zähne zusammen und versuchte vor den eigenen Gedanken davon zu laufen. An der nächsten Straßenecke stoppte er kurz, schaute zurück. Das Polizeifahrzeug war nicht zu sehen. Auch nicht verdeckt hinter den parkenden Autos. Er hörte zwar ein Martinshorn, aber es klang so, als würde es sich entfernen.
Brandes bog in die Auguststraße ein, mehr stolpernd als laufend. Er musste sich an der Hauswand abstützen. Ihm wurde übel. Der Magen rebellierte, und schon sprudelte der bittere Schleim aus seinem Mund. Er konnte ihn nicht zurückhalten, spuckte ihn an der rostigen Dachrinne entlang auf den Bürgersteig.
„Wie kann man nur mittags schon so besoffen sein“, schimpfte eine alte Frau, die vollbepackt mit Obst- und Gemüsetüten vorbei humpelte. „Schämen se sich nich? Jejenüber is ´ne Kirche!“
„Bin nich besoffen!“ Brandes schnappte nach Luft, winkte ab. Hat ja doch kein Zweck. Er wischte sich mit der Hand über den Mund und suchte im Mantel nach einem Taschentuch. Langsam beruhigte sich sein Magen. Er ließ die Dachrinne los, richtete sich auf und torkelte benommen weiter.
„Und wer putzt die janze Sauerei hier wieder weg?“, hörte er hinter sich eine andere Frauenstimme keifen. Sie klang endlos weit entfernt, obwohl er nur drei Hausnummern weiter gegangen war. Brandes drehte sich nicht um. Seine Schritte wurden fester, sein Gang aufrechter. Dann wechselte er zielstrebig die Straßenseite und verschwand kurz danach in einem Hauseingang.
*
„Hallo Marco! Komm rein.“
Sie war Anfang zwanzig und trug nur einen knapp geschnittenen schwarzen String und einen ebenso spärlichen BH mit Spitzen und vielen kleinen kunstvoll verzierten Löchern. Ihren gebräunten glatten Körper drückte sie so eng an Brandes, dass er mit seinen Händen zwangsläufig den nackten Po berühren musste. „Soll ick dich ein bisschen anheizen, bevor du zur Chefin jehst?“
Er blieb unschlüssig stehen. Wer war dieser Typ, der mir da auf der Treppe entgegengekommen ist? Dieses wissende Grinsen in seinem Gesicht? Und die Duftwolke? Wo habe ich solch ein Rasierwasser schon einmal gerochen?
„Hey Marco! Wo biste mit deine Gedanken? Gefall ick dir nich mehr?“
„Ach Monique. Lass det.“ Brandes schob sie zur Seite. „Sag mir lieber, wer det war. Dieser Kerl im Treppenhaus. Gerade.“
„Weiß nich. Komischer Kunde. War schon zwei-, dreimal hier. Kam unjefähr vor ´ner Stunde. Hat mit der Chefin jequatscht, die janze Zeit bloß jequatscht. Manchmal ziemlich laut. Und dann isser weg. Eben.“
„Bloß gequatscht?“ Brandes Stimme klang erleichtert. Er hasste alle so genannten Kunden von Bärbel.
Er hasste auch diesen Eingangsbereich: Den rosa Plüsch, den bunten Kitsch in allen Ecken, die vielen goldumrahmten Nacktfotos an den Wänden, diese langen feinmaschigen Vorhänge, die alles in ein so merkwürdiges Zwielicht hüllten. Er hasste das ganze Etablissement. Wenn da nicht Bärbel wäre. Bärbel Wiesheu, die Chefin, zu der er sich seit einiger Zeit hingezogen fühlte, weil sie so warmherzig und so voller Verständnis ist und, weil sie so gut zuhören kann - zuhören, ohne blöde Fragen zu stellen.
In irgendeiner Kneipe hatte sie ihn angesprochen, bei einer seiner üblichen Sauftouren. Sie hatte ihn angesprochen! Im Silberstein ? Oder war es im Tacheles gegenüber? Im Obst und Gemüse oder in Clärchens Ballhaus ? Jedenfalls irgendwo im Kiez der Spandauer Vorstadt, wo er sich seit der Entlassung aus dem Knast einigermaßen zu Hause fühlte.
Eigentlich war sie ja auch keine richtige Nutte. Bärbel war die Chefin über immerhin acht Mädels. Oder waren es neun? Oder sogar noch mehr?
„Beischlaf mit Freiern, das gibt’s schon lange nicht mehr bei mir“, hatte sie ihn mehrmals beruhigt. „Höchstens die Illusion davon. Die meisten sind ohnehin schon fertig, wenn ick ihnen den Pariser jlattstreiche.“ Und das hatte sie in einer sprachlichen Mixtur gesagt, der man leicht die bisherigen Stationen ihrer horizontalen Karriere entnehmen konnte: München, Hamburg und Berlin.
Da hörte er sie auch schon vom oberen Teil der großzügig geschwungenen Freitreppe herunter kommen: „Monique, bitte ruf doch mal die Susi an und Carmen und Cornelia. Und die drei Neulinge. Heute Abend, so ab zweiundzwanzig Uhr. Ich brauche euch alle, meine Lieben. Wirklich alle. Es kommt wieder eine Delegation aus Bonn.“
Mitten auf der Treppe blieb sie überrascht stehen. „Marco, mein Liebling! Was machst du schon so früh hier?“ Sie streckte ihm beide Arme entgegen und ging weiter.
Brandes bewunderte die Art, wie sie eine Treppe abwärts schritt, wie sie einer Tänzerin gleich die Füße aufsetzte und wie sie die Hüften dabei bewegte. Er kam sich, wenn er an seine Art zu gehen dachte, reichlich unbeholfen vor. Und jetzt stand er da auch noch in seinem ausgebeulten alten Wintermantel. Monique war fast nackt und Bärbel trug ein dünnes, langes, hellgrau glänzendes Seidennegligé. Etwas verlegen drehte er an einem Mantelknopf.
Sie kam die restlichen Stufen herunter und nahm ihn in die Arme. Er liebte ihren Duft und fühlte es gern, wenn ihre weichen Haare über seine Wangen streiften. Der Duft erinnerte ihn an Gisela. Ebenso das geheimnisvolle Leuchten in ihren Augen.
„Marco, was ist mit dir? Siehst ja aus, als hätteste rückwärts gefrühstückt.“
„Hab noch gar nicht gefrühstückt“, brummte er und löste sich aus ihrer Umarmung.
„Komm mit nach oben“, sagte sie besorgt. „Ich mach dir ´ne anständige Brotzeit mit Weißwürschterln und ´nem echten bayerischen Bier dazu“.
„Bloß kein Bier!“, wehrte er ab. „Und keine Weißwurst! - Zwieback und Kamillentee, das könnte ich jetzt gebrauchen.“
„Ja, ja. Des kriegen ma scho wieder hin.“ Sie schob ihn vor sich her die Treppe nach oben. „Und nach der Brotzeit gibt’s noch a Busserl und a bisserl Brusttee. Und dann steht er wieder wie ´ne Eins, der Kleine.“
*
Brandes ließ sich erschöpft auf das Ledersofa plumpsen. Bärbels Wohnzimmer war tabu für Freier, aber er gehörte ja inzwischen zur Familie, sozusagen. Sie hatte es im bayerischen Landhausstil eingerichtet, mit einem kleinen Herrgottswinkel in der Fensterecke. Ein Stückchen Heimat, das sie auf all ihren Stationen in Ehren gehalten hatte, auch wenn sie ihr Elternhaus verachtete.
„Erzkatholisch war der Vater“, hatte sie ihm einmal erzählt. „Und ein Monarchist. Ein ganz ein Frommer. Sogar Kassierer im Kirchenvorstand ist er gewesen. Und die Mutter hat ihn fast nicht wieder aus dem Beichtstuhl heraus gekriegt, als man ihm berichtet hatte, womit seine einzige Tochter ihre Semmeln verdient.“
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