Es folgten Berichte in typisch geschraubtem Behördendeutsch, veranschaulicht durch zahlreiche Grafiken, Zeitleisten und Bilder. Die früheren Anschläge der IRA in Osnabrück analysierte ein britischer Mitarbeiter der Sonderkommission. Er verglich sie mit dem Ereignis von Freitag und beleuchtete sie dann zusammen mit dem Tod von Professor Scantlebury und diversen Opfern in Nordirland und Großbritannien. Zufall? Ein gezielter Anschlag? Insgesamt blieben am Ende mehr Fragen als Antworten.
Ein anderer Beamter beschäftigte sich mit möglichen Feinden des Präsidenten der Hochschule oder seines Vizepräsidenten. Die hochsensiblen Forschungsarbeiten Ackermanns und eventuelle Verquickungen mit Industriespionage waren dabei ebenso Thema wie ein denkbares Attentat politischer Hitzköpfe auf den verletzten Oppositionsführer des Landtages, der „immerhin als der zukünftige Ministerpräsident im Gespräch ist.“
„Letztlich müssen wir bei all diesen Überlegungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber auch immer noch mit den großen Unbekannten rechnen“, schloss der Oberstaatsanwalt die Berichtsphase ab und gab die Fragerunde frei.
Eine Welle von Stimmen schwappte über das Podium:
„Wie viele Verletzte gab es genau?“
„Kann aus der Art und Schwere der Verletzungen und der Schäden am Explosionsort auf den Sprengstoff und die Menge geschlossen werden?“
„Wenn Sie die IRA verdächtigen, ermitteln sie dann auch in Richtung RAF oder anderer Terrorgruppen?“
„Wie hoch beziffern sich die Sachschäden?“
„Wer hat den Overhead-Projektor auf die Bühne geschoben?“
„Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um ähnliche Anschläge auf die Universität und die Katholische Fachhochschule in Osnabrück zu verhindern?“
„Am Westerberg befindet sich ein Auffanglager für Aussiedler aus Kasachstan. Könnten da auch Neonazis ...?“
„Sonst noch was?“, unterbrach der Oberstaatsanwalt ziemlich barsch den noch jugendlich wirkenden Journalisten. „Vielleicht die PKK? Algerischen Fundamentalisten? Die ETA? Albanische Drogenhändler?“
Mit einem Mal war es still. Nur verlegenes Räuspern und das Rascheln von Notizblöcken erfüllten den Raum. Nach kurzer Pause beantworteten die Beamten der Sonderkommission die aufgeworfenen Fragen der Reihe nach.
Der Oberstaatsanwalt schaute auf die Uhr, versuchte die Konferenz abzukürzen: „Eine letzte Frage noch?“
Samantha erhob sich langsam von ihrer Kiste, zupfte den Saum des Rockes etwas weiter nach unten und fragte: „Können Sie bestätigen, dass heute Morgen im Sekretariat der Fachhochschule ein Brief eingegangen ist, in dem sich ein sogenannter ´Beschützer der Menschheit´ zu dem Anschlag bekannt hat?“
Gemurmel erfüllte den Raum. Der Oberstaatsanwalt reagierte überrascht, räusperte sich mehrmals, bevor er antwortete: „Äh, - dazu möchte ich mich jetzt nicht äußern.“
„Sie bestätigen damit also die Existenz dieses Briefes?“
Der Oberstaatsanwalt biss die Lippen zusammen. Samantha triumphierte. Hatte sich der kleine Umweg heute Morgen und das Lauschen auf den Fluren der Fachhochschule doch gelohnt! Haken wir noch einmal nach: „Wenn der Brief also existiert, dann könnten Sie doch auch bestätigen, dass der Attentäter darin erklärt, er habe gerade diese erfolgreiche Fachhochschule und mit Absicht diesen Festakt ausgewählt, ganz bewusst, um ein Fanal zu setzen gegen den verlogenen technischen Fortschritt und den damit verbundenen Verfall menschlicher Werte ...“
„Woher verfügen Sie über diese Textkenntnisse?“, unterbrach der Oberstaatsanwalt.
Samantha schwieg. Ihre Stimme hätte ohnehin niemand mehr verstehen können. Die Unruhe unter den Journalisten, aber auch auf dem Podium, wurde immer heftiger. Zwischenrufe erschollen: „Unglaublich!“, „Uns so etwas zu verschweigen!“, „Pressezensur ist das!“ Die Ersten standen auf, um die Konferenz zu verlassen und diktierten im Gehen bereits ihre Berichte in die Handys.
„So beruhigen Sie sich doch!“, versuchte der Oberstaatsanwalt den Tumult zu ordnen. „Es ist in der Tat ein Bekennerbrief in der Hochschule eingegangen. Er wird derzeit aber noch erkennungsdienstlich geprüft. Vor Abschluss dieser Untersuchungen kann aus ermittlungstaktischen Gründen nichts weiter dazu verlautbaren. Und ich bitte Sie deshalb alle, ich bitte Sie inständig, meine Damen und Herren, in Ihrer Berichterstattung vorerst von der Erwähnung dieses Briefes Abstand zu nehmen.“
Bei den letzten Worten erhob er sich. Mit grimmigem Seitenblick schob er sich an Samantha vorbei durch die Menge der aufgebrachten Journalisten. „Keine Fragen mehr! Die Konferenz ist beendet. Lassen sie mich durch, bitte!“
*
„Es geht Herrn Professor Ackermann den Umständen entsprechend“, hatte die Stationsschwester gesagt und mit strengem Blick hinzugefügt: „Fünf Minuten. Nicht länger!“
Vorsichtig drückte Samantha die Türklinke herunter. Der Sicherheitsbeamte, der zwischen den beiden Zimmern auf einem Stuhl saß, grinste sie an, als würde da eine alte Bekannte vor der Tür stehen. Weshalb also die Unruhe? Samantha atmete durch, öffnete die Tür und trat ein.
Berthold war allein. Er drehte ihr den Kopf zu. Ein Lächeln huschte über das zur Hälfte mit Verbandsmull bedeckte Gesicht.
„Sie wollen das versprochene Interview nachholen?“, fragte er und streckte ihr die linke Hand zur Begrüßung entgegen. „Tut mir leid, dass das so gründlich daneben gegangen ist. Wir hätten es gleich machen sollen, als sie mich im Foyer darum baten.“ Er versuchte, sich aufzurichten. Samantha bemerkte, wie die Schmerzen ihn daran hinderten.
„Ich bitte sie, Professor. Bleiben Sie liegen. Das Meiste habe ich bereits mit Herrn Mühlenhofen besprochen, auch was die zahlreichen europäischen und internationalen Kooperationen der Hochschule betreffen und die geplanten Projekte für die Expo 2000. Meine Fragen an Sie haben noch etwas Zeit.“
Sie rückte den Stuhl näher an sein Bett, setzte sich und betrachtete aufmerksam seine Hand. Ungewöhnlich schlanke Finger hat er.
„Ich hatte heute Vormittag in Osnabrück einiges zu erledigen“, begann sie, „da sagte ich mir, das ist eine günstige Gelegenheit, um mich einmal nach ihrem Befinden zu erkundigen.“
„Danke für Ihr Interesse, Frau ...“ - Er zeigte auf seinen Kopfverband. „Pardon, mein Gedächtnis. Es hat wohl auch etwas abbekommen. Ihren Vornamen weiß ich noch: Samantha. Aber der Nachname?“
„Smits.“
„Ach ja. Jetzt erinnere ich mich. - Klingt holländisch.“
„Ja. Ich stamme aus Alkmaar. Da steht auch heute noch mein Elternhaus.“
„Alkmaar“, wiederholte Berthold. „Da steigen alte Bilder in mir auf: An Abende, an denen die Sonne wie ein glutroter dicker Ball eine Zeit lang über den alten Giebeldächern der Stadt und dem Glockenturm schwebte, bevor sie hinter ihnen abtauchte.“
„Sie waren schon dort?“, fragte Samantha.
„Ich habe in der Nähe einige Male Urlaub gemacht. Mit meiner Tochter. In Callantsoog und in Den Helder. Da gehörte der Besuch des Käsemarktes und der Altstadt von Alkmaar einfach dazu.“
Samantha schaute beunruhigt auf ihre Armbanduhr und sagte: „Es gibt sogar viele geheimnisvolle Geschichten vom Treiben in der historischen Altstadt.“
„Erzählen sie mir davon?“
„Ein anderes Mal. Die Stationsschwester hat mir heute nur fünf Minuten zugestanden.“
„Die sind hier im Hause alle sehr besorgt um mich.“
Samantha schielte auf die Uhr. Zwölf Uhr zwanzig. Die Zeit rast mir davon. Dabei müsste ich ihn so vieles fragen.
„Ich habe Ihnen übrigens eine Kleinigkeit mitgebracht“, sagte sie stattdessen und fühlte wieder dieses Herzklopfen, als sie ihm das kleine flache Päckchen entgegenstreckte. Sie beobachtete, wie er sich mit nur einer Hand abmühte, das Schleifenband von der Verpackung abzustreifen. Es dauerte und dauerte, wollte ihm nicht gelingen.
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