Brockschmidt stand auf. „Danke, Professor“, sagte er und verabschiedete sich höflich. „Sie haben uns, glaube ich, ein ganzes Stück weitergeholfen. Und noch mal: Gute Besserung.“
*
Wütend drückte Samantha auf die Hupe, schimpfte, fluchte - es half nicht. Der Lastwagen scherte nach links aus, schnitt ihr den Weg auf der Überholspur ab. Sie trat kräftig in die Bremse und bemühte sich gleichzeitig in der Spur zu bleiben, damit sie mit ihrem Auto nicht zwischen die Leitplanken und das stabile Hinterteil des dreiachsigen Aufliegers geriet.
„Anzeigen sollte man den!“, schrie sie. „Rücksichtsloses Arschloch!“ Instinktiv tastete sie mit der rechten Hand über den Beifahrersitz. Das Diktiergerät! Gewöhnlich lag es dort. Oder war es in der Handtasche? Sie musste sich auf die Fahrbahn konzentrieren, auf den LKW vor ihr und auch auf den etwas langsameren Lastwagen rechts neben ihr. Nicht, dass der auch noch ausschert. Mit nervösen Fingern wühlte sie in einem Chaos von Utensilien.
Endlich! Da war es. Sie drückte die Aufnahmetaste, und sprach langsam und mit zittriger Stimme: „Dienstag, 5. März 1996, acht Uhr vierunddreißig. Autobahn Bremen, Richtung Süden, Höhe Wildeshausen. Vollbremsung wegen LKW mit dem Nummernschild ...“ Sie schaute genauer hin. „Ja gibt’s denn sowas? Der hat gar kein Nummernschild! Da ist nur eine schwarze Platte. Der fährt ohne Nummernschild mitten durch Deutschland!“
Sie prägte sich die Farbe des Aufliegers und den polnischen Schriftzug auf der Plane ein. „Szczecin“ stand da und daneben waren Gänse aufgemalt. Von der Telefonnummer fehlte die zweite und dritte Ziffer. Absichtlich?
„Eigentlich müsste man sofort die Polizei anrufen. Sofort!“
Sie beruhigte sich wieder. „Tief Luft holen, Scheiße schreien, auf das Lenkrad trommeln und bis zum nächsten Parkplatz warten.“ Der Schock vom letzten Jahr saß noch zu tief. Es war eine ähnlich kritische Situation gewesen. Sie hatte mit Austin telefoniert und war nur mit Glück an einem Unfall vorbeigeschrammt. Seitdem war Telefonieren während der Fahrt tabu. Das Diktiergerät nutzen, das war aufregend genug, obwohl es mit automatischer Sprachsteuerung funktionierte.
Der Pole blinkte nach rechts und gab die Überholspur wieder frei. Samantha fuhr an ihm vorbei und drosselte das Tempo, nach dem sie auf die rechte Spur gewechselt war. Sie bemühte sich, im Rückspiegel das stark verschmutzte Nummernschild zu entziffern. Nur ein „H“, eine Drei und weiter hinten eine Fünf konnte sie entziffern. Hatte der was zu verbergen?
Sie ließ den Lastwagen aufschließen und drehte sich um. Das half auch nicht. Der Pole blinkte mit der Lichthupe und setzte erneut zum Überholen an.
„Das könnte dir so passen!“, schimpfte sie und drückte kräftig auf das Gaspedal ihres Golf-GTI.
*
Sie verließ die Autobahn nicht beim nächsten, sondern erst beim übernächsten Parkplatz. Etwas Vorsprung haben, alles in Ruhe überdenken und dann einen Entschluss fassen, sagte sie sich. Das ist in emotionsgeladenen Situationen die bessere Strategie. Sie parkte so, dass sie die Autobahn gut überblicken konnte. Den Fotoapparat legte sie griffbereit.
Der LKW aus Polen kam nicht. Auch nicht nach zwanzig Minuten. Sie schaute ungeduldig auf die Uhr.
„Wer weiß. Ist vielleicht besser so.“ Die Zeit raubende Prozedur bei der letzten Anzeige fiel ihr wieder ein. Diese vielen Fragen. Der Ärger. Und der kommt spätestens, wenn dieser Pole dann alles abstreitet. „Da konzentriere ich mich doch lieber auf den eigentlichen Grund meiner Fahrt.“
Anstatt die Polizei anzurufen, tippte sie die Telefonnummer der Fachhochschule Osnabrück ins Handy.
„Bitte Herrn Professor Trotta“, sagte sie.
Samantha wunderte sich, dass die Verbindung so schnell zustande kam. Trotta war sehr freundlich, erinnerte sich sofort an sie und erzählte ohne große Umschweife von seinem letzten Besuch im Krankenhaus: Ackermann mache zwar langsame, aber doch erkennbare Fortschritte, und die Polizei sei inzwischen auch dem ominösen Briefeschreiber, diesem selbst ernannten Beschützer der Menschheit, auf der Spur. „Ein ehemaliger Student der Hochschule! Der würde zurzeit in der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Osnabrück liegen.“
„Kennen Sie den Namen?“
„Bölkow oder so ähnlich“, sagte Trotta. „Im Sekretariat, da müsste man es genau wissen.“
„Würden Sie mich denn freundlicherweise dorthin verbinden?“, bohrte sie weiter. Mit dem richtigen Namen, dachte sie, komme ich vielleicht meinem Ziel näher. Ich könnte gleich ins Landeskrankenhaus fahren, vor Ort recherchieren, eventuell sogar Fotos schießen.
Sie verabschiedete sich besonders freundlich, und kurze Zeit danach meldete sich aus dem Sekretariat des Präsidenten eine Frau Lautenschläger:
„Wozu brauchen Sie den Namen denn?“
Eine abweisende Stimme hat sie, dachte Samantha. Bei der Frau muss ich auf der Hut sein.
„Die benötige ich für ein Treffen mit Hauptkommissar Brockschmidt vom Bundeskriminalamt.“
„Sind Sie eine Mitarbeiterin von ihm?“
„Ich bin mit ihm heute Vormittag im Landeskrankenhaus verabredet“, log sie, „habe aber dummerweise soeben einen Teil der Informationen gelöscht, die er mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Ausgerechnet den Teil mit dem Namen und der Zimmernummer. Und jetzt ist Herr Brockschmidt irgendwo unterwegs. Ich kann ihn nicht erreichen.“
„So, so“, bemerkte Frau Lautenschläger mit ironischem Unterton. „Ich dachte, das Bundeskriminalamt sei so eine perfekte Behörde.“
Samantha schwieg und wartete.
„Na ja“, fuhr Frau Lautenschläger fort. „Dann will ich die Ermittlungen nicht unnötig behindern. Warten sie bitte.“ Samantha hörte Papier rascheln und den Bügel eines Aktenordners klicken. „Hier habe ich’s: Sven Bollnow heißt der junge Mann. Die Zimmernummer steht hier nicht. Nur, dass er auf Station D, wie Dora, Patient von Herrn Dr. Gerber ist.“
Am liebsten hätte Samantha einen Luftsprung gemacht. Sie bedankte sich und startete sofort ihren Wagen.
*
Berthold erschrak. Es klopfte und gleichzeitig öffnete sich die Tür. Gewöhnlich verging etwas Zeit oder es wurde wenigstens das „Herein“ abgewartet. Aber jetzt? Wo die Sicherheitsbeamten nicht mehr vor der Tür saßen?
Etwas unbeholfen humpelte Professor Mühlenhofen mit Unterarmkrücken ins Zimmer. Er keuchte und seine Miene entspannte sich erst, als er auf dem Stuhl neben Bertholds Krankenbett saß.
„Ich hoffe, ich störe nicht, Herr Kollege“, sagte er. Sein Kopf war rot angelaufen.
„Nein, nein.“ Berthold richtete sich ein wenig auf. „Es freut mich, dass Sie schon wieder auf den Beinen sind.“ Im Stillen dachte er: typisch Mühlenhofen. Erst setzt er sich, und dann fragt er.
„Ach wissen Sie“, fuhr Mühlenhofen fort. „Diese Krankenhausbetten, die sind eine Katastrophe. Ich kann einfach nicht mehr liegen. Und da dachte ich ...“, er unterbrach, schnappte nach Luft und redete weiter, „vielleicht können Sie ja ein wenig Aufmunterung gebrauchen.“
Berthold lächelte, lehnte sich zurück und musterte Mühlenhofen schweigend. Muss schlimm sein für ihn, dachte er. Diese Rolle als ausgebremster Hans Dampf mit Gipsbein und Krücken, die macht ihm sicher arg zu schaffen. Dann fiel ihm der gelb gestreifte Schlafanzug auf, das aufgeschnittene Hosenbein über dem Verband und der etwas zu kurz geratene weinrote Frottee-Bademantel. Am liebsten hätte er laut losgelacht.
„Was ich sagen wollte, Herr Kollege“, begann Professor Mühlenhofen umständlich und mit dienstlichem Unterton. „Ich überlege die ganze Zeit, wer uns übermorgen im Ministerium vertreten könnte, bei den Haushaltsberatungen. Schlagkräftig, meine ich. Die Ärzte wollen mich partout noch nicht entlassen.“
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