Dr. Gerber war der Streit auf dem Flur unangenehm. Das sah sie ihm an. Er bemühte sich zu schlichten und fragte Samantha überaus höflich: „Warum wollen Sie denn zu Herrn Bollnow? Warum heute?“ Und, nach dem Samantha nicht gleich antwortete, ergänzte er: „Ich kenne Herrn Bollnow schon seit geraumer Zeit. Er hat mir immer wieder gesagt, es gäbe gar keine Verwandten mehr. Er lebe sozusagen mutterseelenallein hier in Osnabrück. Seine Mutter, das müssten Sie ja wissen, ist bereits gestorben, als er 19 war.“
Samantha fühlte sich entwaffnet. Was soll ich darauf antworten? Ich habe mich zu weit vorgewagt. Rückzug? Jetzt?
„Frau Smits“, mischte sich Brockschmidt wieder ein. „Machen Sie uns doch nichts vor. Sie sind Journalistin und hier auf der Suche nach Ihrer Story. Ich sehe die Titelseite schon vor mir: Exklusiv aus der Heilanstalt - Was uns der geistesgestörte Attentäter sagen will.“
„Ach ja?“ Samantha hatte sich erstaunlich schnell wieder in der Gewalt. „Ist er denn der Attentäter, Herr Brockschmidt? Haben Sie ihn überführt? Haben Sie sein Geständnis?“
Mit flinken Fingern holte sie ihr Diktiergerät aus der Tasche, hielt es ihm eingeschaltet vor den Mund und hakte nach:
„Und wenn er´s war, Herr Brockschmidt, kennen Sie die Motive? Warum hat er es getan? Erklären sie es unseren Lesern.“
Auf dieses Feuerwerk war er nicht gefasst. Er drückte das Gerät mit der Hand beiseite.
Dr. Gerber bemühte sich, die Situation zu entkrampfen:
„Bitte, meine Herrschaften. Wäre es nicht wesentlich klüger, wenn Sie, anstatt sich zu zanken, angesichts der gegenwärtigen Sachlage vielleicht ... zusammenarbeiten würden?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Samantha, während Brockschmidt missmutig etwas Unverständliches vor sich hin brummte.
„Schalten Sie Ihren Apparat ab. Ich werde es Ihnen erläutern.“
Samantha zuckte mit den Schultern und steckte das Diktiergerät widerwillig in die Tasche.
„Seit Freitag“, fuhr er fort, „genauer gesagt, seit Freitagmittag, hat sich sein Gesundheitszustand verändert - dramatisch, könnte man sogar sagen. Und völlig überraschend. Die Prognose war bis dahin günstig, sehr günstig, müssen Sie wissen. Wir wollten ihn entlassen, endgültig. Seine Freigänge waren komplikationslos verlaufen. Ambulante Betreuung hätte gereicht. So weit war er schon. Aber ...“, Dr. Gerber kratzte sich am Kopf und sprach dann nervös weiter, „irgendetwas ist da vorgefallen. Ein traumatisches Erlebnis vielleicht. Er reagiert seit Freitag völlig verändert. Konkret: Er verweigert die Mahlzeiten und spricht nicht mehr mit mir. Er lässt keinen an sich heran. Einzig unserer Psychologin ist es gestern für einen kurzen Moment gelungen, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aber die ist, wie ich schon sagte, Herr Brockschmidt, für die nächsten Tage auf einem Kongress.“
„Sie meinen“, Brockschmidt schüttelte seinen Kopf, „deshalb sollte ich stattdessen mit dieser Dame hier ...?“
„ Sie haben es eilig!“, sagte Dr. Gerber. „ Sie wollen keine Zeit verlieren! - Weshalb sollten wir da den Umstand nicht nutzen, dass Frau Smits der Kollegin Brüning auffallend gut ähnelt?“
„Nee, Doktor!“ Brockschmidt wehrte ab.
„Wieso sperren Sie sich?“, fragte Samantha. Sie erfasste die winzige Chance blitzschnell. „Verfolgen wir nicht letztendlich die gleichen Aufgaben? Die Wahrheit herausfinden?“ Sie spürte, dass sie ihrem Ziel jetzt näher kam. Nur noch ein kleiner Schubs, dachte sie, dann ist er reif.
Die Tür öffnete sich plötzlich. Ein magerer junger Mann mit einer altmodischen Hornbrille und einer Baskenmütze kam heraus. Er hatte sich einen Wollschal um den Hals gebunden, trug einen grob gestrickten grauen Pullover und eine Jeans mit reichlich abgewetzten Stellen über den Knien.
Als er Samantha sah, stutzte er. Die Augen weiteten sich hinter den dicken Gläsern. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Es schien, als würde er sich über eine Bekannte freuen - aber nur kurz. Dann erstarrte sein Gesicht zu einer Grimasse. Er sprang auf Samantha zu, griff nach ihren Handgelenken, riss sie an sich, legte den anderen Arm um ihren Hals, drückte ihren Kopf nach unten und zerrte sie in sein Zimmer. Samantha wehrte sich, schrie um Hilfe. Die Obsttüte fiel herunter, platzte auf. Dr. Gerber, der näher an der Tür stand als Brockschmidt, versuchte Samantha festzuhalten, rutschte aber auf den Weintrauben aus, lag plötzlich quer vor der Tür. Er schrie: „Sven! Machen Sie keinen Unsinn! Lassen Sie das?“
Brockschmidt konnte rechtzeitig seinen Fuß zwischen Türrahmen und Tür schieben. Samantha hörte, wie er sich mit aller Gewalt gegen die Tür stemmte. Er keuchte, fluchte. Inzwischen musste Dr. Gerber wieder aufgestanden sein. Sie polterten und drückten zu zweit gegen die Tür. „Bollnow! Machen Sie auf!“
Samanthas Hals und Schulter schmerzten. Bollnow schien ungeheure Kräfte mobilisieren zu können, trotz Hungerstreik. Sie strampelte und schrie verzweifelt. Dann sprang die Tür endlich auf. Sie schlug mit lautem Knall gegen die Innenwand. Brockschmidt hastete ins Zimmer, packte Bollnow, überwältigte ihn mit wenigen Handgriffen. Samantha richtete sich langsam auf.
*
„Merkwürdige Atmosphäre hier drin. Finden Sie nicht?“ Brockschmidt rührte nervös in seiner Kaffeetasse.
„Irgendwie schon“, antwortete Samantha. Das seltsame Verhalten einiger Gäste war ihr auch aufgefallen. Schließlich saßen sie schon eine Zeitlang in dem kleinen Krankenhaus-Café. Es war gar nicht so leicht, Brockschmidt Einzelheiten über Bollnows Beteiligung an dem Anschlag und die möglichen Hintergründe zu entlocken. Sie musste ihn bei Laune halten. „Ich denke mal“, setzte sie deshalb das Gespräch fort, „für die Patienten dieser Klinik ist es sicher wichtig, dass sie so ein Café haben, einen Ort, an den sie sich zurückziehen können, ganz normal.“
„Normal?“
„Na, zum Beispiel, wenn sie Besuch bekommen.“ Samantha schlürfte an ihrer heißen Schokolade und beobachtete währenddessen den älteren Mann am Nebentisch. Er hatte zwei Portionen Kaffee bestellt, obwohl er allein war. Und er fing jetzt mit weit ausladenden Armbewegungen ein Gespräch mit jemandem an, der in seiner Vorstellung mit am Tisch saß. Er wirkte glücklich, entspannt, zufrieden. „Was ist schon normal?“, sinnierte sie, und nach einer kurzen Zeit des Schweigens fügte sie hinzu: „Wenn man über das nachdenkt, was Bollnow so alles gesagt hat, nachdem ihn die Spritze von Dr. Gerber beruhigt hatte.“
„Sie meinen die Bedrohung der Menschheit durch den technischen Fortschritt?“
„Ja. So verrückt klingt das doch gar nicht. Oder?“
„Aber dieser völlig verdrehte Wahnsinnssatz: Von der Mafia beherrschte Wissenschaftler, Politiker und Wirtschaftsbosse würden uns - wie hat er gesagt? - ein Dasein aufzwingen, das abseits aller natürlichen Muster menschlichen Verhaltens liege und unseren sicheren Untergang bedeute, wenn wir uns nicht dagegen wehren.“
„Vielleicht würden wir das nur anders formulieren.“ Samantha hielt kurz inne, trank erneut einen Schluck. „Schauen Sie sich doch um, Herr Brockschmidt. Was sind denn unsere täglichen Schlagzeilen? - Mord, Totschlag, Bürgerkrieg, Korruption, Massenarbeitslosigkeit, Verelendung der Dritten Welt und so weiter, und so weiter. - Alles natürliche Muster menschlichen Verhaltens?“
Brockschmidt räusperte sich verlegen und rutschte mit dem Stuhl ein Stück von Samantha ab.
„Und ihre Probleme bei der Polizei? Terror, organisierte Kriminalität, Drogen-, Waffen-, Menschenhandel im internationalen Maßstab; und wenn wir nicht aufpassen, Geldwäsche bis zum Ruin ganzer Staaten.“
„Schlimm genug, Frau Smits. Doch vergessen Sie nicht: Bollnow ist krank. Paranoide Schizophrenie. Der redet nur normal, wenn er ausreichend Neuroleptika im Blut hat.“
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