„Trauen Sie Frau Professor Niendieker das denn nicht zu?“, fragte Berthold. „Sie ist immerhin auch Vizepräsidentin?“
„Sie kennen den Finanzminister nicht, und was der von Frauen als Verhandlungspartner hält.“
„Herr Mühlenhofen, ich bitte Sie!“, entrüstete sich Berthold. „Sie könnte den Kanzler mitnehmen. Außerdem ist Frau Niendieker eine erfahrene und anerkannte Wissenschaftlerin.“
„In ihrem Fach, den Bodenwissenschaften, ja, ohne Zweifel. Aber hier geht’s ums Geld und nicht um irgendwelche Erdkrümel. - Können Sie nicht ihren Kollegen Derscheid? Ich meine, der ist ...“
„Ein Mann, wollen Sie sagen? - Davon halte ich gar nichts.“ Berthold richtete sich wieder auf. „Sie wissen, wie ich Derscheid schätze. Aber wenn Sie Frau Niendieker bei dieser Sache übergehen, riskieren Sie einen Aufstand in der Hochschule.“
Der ist sonst so modern in seinen Ansichten, dachte er. Aber wenn es um Frauen in Führungspositionen geht, gebärdet er sich manchmal seltsam. „Und im Übrigen“, fuhr er fort, „ich traue der Kollegin Niendieker durchaus eine erfolgreiche Verhandlungsführung zu. Vorausgesetzt, Sie statten sie vorher mit allen notwendigen Informationen aus.“
„Meinen Sie wirklich?“, Mühlenhofen runzelte die Stirn. „Es geht schließlich um existentielle Fragen, die Ausstattung, den Hochschulentwicklungsplan. Es geht um die Weichen ins nächste Jahrtausend!“
„Und was ist, wenn Sie den Minister um Terminverschiebung bitten? Der weiß doch, was hier passiert ist.“
Mühlenhofen sagte nach kurzer Denkpause: „Sie kennen mich doch. Ich will als Erster ins Rennen. Vor all den anderen Hochschulen. Die lassen uns am Ende sonst nur die Krümel übrig.“
Er ist und bleibt ein Ehrgeizling, dachte Berthold. Für die wissenschaftliche Reputation ist das ja nicht schlecht. Damit hat er schon viel erreicht, sogar den Sprung zu einer Fachhochschule mit eigener Budgetierung und Präsidialverfassung. Aber manchmal geht er einfach zu weit. Er beobachtete ihn einen Augenblick schweigend und war dann selbst überrascht, als ihm die Frage herausrutschte: „Und was wäre mit den Verhandlungen, wenn es uns beide erwischt hätte? Am Freitag, bei dem Anschlag?“
„Gott bewahre! Herr Ackermann!“
„Ich frage mich schon die ganze Zeit, wem der Anschlag wirklich gegolten hat. Mir? Ihnen? Überhaupt jemand Bestimmtem?“
„Sie wollen sagen, eigentlich hätte ich auf der Bühne stehen müssen. Nicht wahr?.“
Berthold schwieg. Seine Rippen schmerzten.
„Wissen Sie, Herr Kollege“, fuhr Mühlenhofen fort, „die Polizei ist sich sicher: Mich wollte man nicht umbringen. Nur aus dem Verkehr ziehen, mich vorübergehend kampfunfähig machen, sozusagen, und zwar durch eine schmierseifenähnliche kaum sichtbare Masse, genau auf den Stellen des Bürgersteiges, von denen aus ich gewöhnlich in den Dienstwagen einsteige. Das muss einer genau ausgekundschaftet haben.“
„Sie meinen, da hat jemand absichtlich dafür gesorgt, dass Sie sich bloß, wenn ich das so sagen darf, ein Bein brechen, damit ich dann bei dem Festakt für Sie einspringe?“ Berthold spürte die Erregung in seiner Stimme und wie seine Mundwinkel zuckten.
„Sieht so aus“, antwortete Mühlenhofen. „Vermutlich wollten die oder der Täter verhindern, dass ich vor dem Festakt in der Hochschule erscheine und zum Beispiel“, er machte eine Pause, holte Luft, „diesen Overheadprojektor auf der Bühne entdecke und entfernen lasse.“
„Die Idee mit dem Logo stammte nicht von Ihnen?“
„Ich bitte Sie! Erstens hätte ich das mit Ihnen und mit Frau Gödeler abgesprochen. Und zweitens: Da nehme ich doch nicht so altmodische Plastikfolien. Die sind doch längst out. Wenn schon, dann hätten wir da eine farbenprächtige Lasershow von gemacht, Herr Ackermann. Aber unsere Elektroniker sind ja wieder mal nicht rechtzeitig in die Puschen gekommen.“
Berthold schob sein Kissen in eine andere Lage. Sein Herz klopfte. Der Atem ging unregelmäßig. Der Gedanke, irgendjemand trachtet dir gezielt nach dem Leben, begann in seinem Kopf zu wuchern. Warum?, fragte er sich. Wer könnte ein Interesse daran haben? Und was hat dieser Student damit zu tun?
„Ist ihnen nicht gut?“ Mühlenhofens Stimme klang besorgt. „Herr Ackermann, Sie sind ja ganz bleich im Gesicht.“
Als Berthold nicht antwortete, drückte Mühlenhofen mit seinem Krückstock auf die Alarmklingel.
*
Samantha schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach zehn, als sie an die Glasscheibe der Rezeption klopfte und die kleine Obsttüte auf das schmale Brett legte. Hinter der Scheibe saß ein älterer Mann in einem engen Pullover mit rostbraunen und gelben Querstreifen. Sein Kinnbart sah ungepflegt aus, aber in seinen Augen und um die schmalen Lippen herum war ein warmes freundliches Lächeln.
„Ich möchte zu Herrn Bollnow“, sagte Samantha. „Sven Bollnow. Er ist Patient von Dr. Gerber.“ Wenn ich das so formuliere, dachte sie, hält er mich vielleicht für eine Verwandte und gibt bereitwilliger Auskunft.
„Bollnow, sagten Sie? Be - o - el ...“, er hämmerte mit unbeholfenen Fingern den Namen in die Tastatur seines Computers, wartete gespannt und kratzte sich an seinen abstehenden gelbgrauen Haaren. „Bollnow. Da ist er. Auf Station D wie Dora. Zimmer 324. Da müssen Sie hier die Treppe hinauf, bis in den dritten ...“
Er blickte erstaunt hinter Samantha her. Die hatte bereits die ersten Stufen genommen.
„Keiner hat mehr Zeit“, murmelte er fassungslos und schüttelte den Kopf. „Dabei tickt die Uhr für jeden gleich. Immer mit derselben Geschwindigkeit. Tick tack. Tick tack.“
Er schaute andächtig auf die Uhr mit den großen schwarzen Ziffern über dem Treppenaufgang und folgte dem gleichmäßig vorwärtsstrebenden Sekundenzeiger. „Tick tack. Tick tack“, sagte er. „Du bist wahrscheinlich die Einzige hier im Hause, die noch richtig tickt.“
*
Als sie in der dritten Etage in den langen Flur einbog, sah sie am Ende zwei Männer stehen. Sie unterhielten sich lebhaft, gestikulierten mit den Armen. Samantha schätzte kurz die Zimmernummern ab. Das müsste ungefähr vor 324 sein.
Der kleinere trug einen weißen Kittel. War das vielleicht Dr. Gerber? Die Konturen des anderen kamen ihr bekannt vor. Aber sein Gesicht war im Gegenlicht der Sonne, die durch das Fenster am Ende des Ganges hereinschien, nicht klar zu erkennen. Erst als sie die beiden fast erreicht hatte, sah sie es und erschrak: Der Größere war Hauptkommissar Brockschmidt.
Wie komme ich bloß an dem vorbei in Bollnows Zimmer?, fragte sie sich. Der hat mich sicher längst erkannt. - In solchen Situationen gibt´s nur eins. Wie hatte Großvater immer gesagt? - Attacke!
Forsch steuerte sie die Tür zum Zimmer 324 an, klopfte und wollte gerade die Klinke herunterdrücken, da hörte sie Brockschmidts Stimme im Rücken:
„Dort dürfen sie jetzt nicht rein.“
Sie drehte sich um. „Und wieso nicht?“
„Weil es Gründe dafür gibt.“ Brockschmidt klang gereizt.
Samantha zögerte einen Augenblick, dann schwenkte sie mit erhobenem Kopf und ausgestreckter Hand, ohne Brockschmidt weiter zu beachten, auf den Mann im weißen Kittel zu.
„Guten Tag“, sagte sie selbstbewusst. „Ich bin Samantha Smits und würde gern meinen Neffen besuchen. Weshalb darf ich das nicht?“
Der Mann im Kittel schielte Hilfe suchend zu Brockschmidt hoch, fing sich aber schnell und erwiderte ihren Händedruck.
„Dr. Gerber, ich bin der behandelnde Arzt. Leider ist ...“
Brockschmidt ließ ihn nicht ausreden.
„Sie? Eine Tante? Von Bollnow?“, fuhr er dazwischen. „Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie bestenfalls eine ... eine Pressetante.“
„Na und?“, konterte Samantha. „Meinen Sie, Journalisten hätten keine Verwandte?“
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