„Was ist passiert?“
„Nach einem gemeinsamen Abendessen sind sie in ihre Wohnung. Als sie wieder herauskamen, verabschiedete sie ihn mit den Worten: Das nächste Mal, wenn du planst, eine Frau zu verführen, nimm Kondome mit !“ Heinz fluchte wieder. Es war weder ein hundertprozentiger Beweis, noch gab es Fakten, aber es genügte, um ihn den Kragen zu kosten. Die Bruderschaft hangelte sich an Gerüchten weiter, suchte in dem Geschwätz von der Gesellschaft als schwachsinnig Abgestempelten nach Halbwahrheiten. Geschöpfe zu vernichten, deren Existenz man verneinte, um ihre Macht zu brechen, konnte man nur fangen, wenn man dem Geflüster der Nacht Gehör und Schwert schenkte. Eben solch ein Gerücht hatte Heinz jetzt vor sich. Ein Wesen von einem anderen Kontinent, über das kaum etwas bekannt war: der Skinwalker. Weder das Ausmaß seiner Kräfte noch der Weg zu seiner Vernichtung. Wenn einer aus der Bruderschaft auch nur ahnte, was er in den Orden gebracht hatte ...
Der Eindringling musste vernichtet werden und mit ihm die Frau. Eine mögliche Schwangerschaft war Grund genug für die Liquidierung. Jedenfalls für ihn und für eine offizielle Version hatte er genug Stoff. Heinz hatte sich erinnert, warum ihm ihr Gesicht so bekannt vorkam. Ihre Mutter war unter Beobachtung wegen auffällig häufigem Kontakt zu slavischen babuschki . Alte Hexen, die sich in zu vieles einmischten, das sie nicht verstanden. Sie praktizierte selbst Zauber und Zukunftsvorhersagen mit Karten und anderen Utensilien. Bei ihr und auch ihrer Tochter waren Unregelmäßigkeiten im Ektoplasmabild aufgetreten und damit minderer, vermutlich unbewusster Kontakt mit der Geisterebene.
Die Geisterebene war ein noch unerforschtes Gebiet und sie hatten nicht genug Personal, um solche minderen Vergehen zu ahnden. Aus diesem Grund hatte Heinz auch mit der Rekrutierung begonnen. Er wollte die Vernichtung aller Unmenschen noch erleben und er war nicht mehr der Jüngste ... Slavische Hexen und Skinwalker aus dem Kult amerikanischer Ureinwohner. Eine gefährliche Mischung und für seinen Geschmack viel zu international.
„Sollen wir den Antrag zur Eliminierung stellen?“ Heinz seufzte. Michael war einer seiner vielversprechendsten Protegés und ging seiner Arbeit immer gewissenhaft nach. Wenn Heinz jemandem in dem Orden vertraute, dann ihm. Nach der Aufnahmezeremonie hatte Heinz Michael auf den Neuen angesetzt. Etwas war ihm seltsam vorgekommen und er hatte Recht behalten. Wäre er es nur nicht gewesen, der ihn zum Orden geführt hatte ...
Liquidierung. Heinz seufzte wieder. Das bedeutete einiges an Papierkram und Erklärungsprotokollen. Die Internationalisierung ging ihm wirklich auf die Nerven. Nur weil ein amerikanischer Staatsbürger beteiligt war, wurde die Sache komplizierter und der Berg von Formularen, die ausgefüllt werden mussten, größer.
„Wir haben noch keine wirksame Handhabung mit seiner Rasse finden können. Aber die Frau wird leicht zu beseitigen sein. Ich werde noch heute Nacht einen Liquidierungsantrag rausschicken. Mit etwas Glück ist die Genehmigung in drei Tagen da. Ihn weiter unter Beobachtung halten und mehr über ihn und seine Rasse herausfinden!“ Heinz wusste, dass Michael nur ihm Bericht erstattete. Keine Gefahr, dass Informationen den falschen Leuten zu Ohren kamen.
Als der Jüngere den Raum verlassen hatte, ließ Heinz seinen Blick zu dem Porträt auf seinem Schreibtisch wandern. Das kleine Mädchen streckte ihm lachend beide Arme entgegen. Sie sah so glücklich aus. Heinz zitterte. Er atmete tief ein und aus und zwang sich zu erinnern. Sie war der Grund, warum er hier war und diesen undankbaren Job machte. Er machte ihn für sie. Auch wenn es ihm weder seine Tochter noch seine Frau zurückbringen würde. Nichts würde sie jemals zurückbringen.
Heinz blickte auf seine Hände. Blut, das nicht das seine war, kroch seine Finger hoch, fraß sich tief in die Haut. Er eilte zum Waschbecken und ließ heißes Wasser laufen. Doch auch nach fünfzehn Minuten waschen waren seine Hände rot.
Blondes Haar in Engelslocken gekräuselt hob sich plötzlich hell von dem schwarzen Ärmel seines Anzuges ab. Heinz sah ein Messer in seiner Hand, das immer wieder auf den dünnen Hals einsäbelte. Er hörte die Schreie des Kindes, das keines mehr war, sah ihre leeren blauen Augen weit aufgerissen. Die Augen ihrer Mutter. Der kleine Mund öffnete sich zu einem Schrei, und spitze lange Zähne funkelten im Licht der Wohnzimmerlampe. Zu spitz und zu lang waren sie rot gefärbt von dem Blut seiner Frau, ihrer Mutter.
Heinz atmete schwer und lehnte sich auf das Waschbecken, das unter seinem Gewicht ächzte. Als die Erinnerungen verklungen waren, erneuerte er seinen Schwur wie unzählige Male zuvor. Er würde sie vernichten. Alle! Jede einzelne widerwärtige Perversion der Natur.
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Bonn, Oktober 2010
Vans Telefon klingelte mitten in der Nacht. Es klingelte normalerweise nie. Niemand hatte diese Nummer. Eine weibliche Stimme begrüßte ihn mit Van -san . Das konnte nur Akiko sein, und wenn Akiko anrief, bedeutete das nichts Gutes.
„Van -san . Du bist in den Ring eingedrungen.“ Keine Frage. Eine klare Aussage. Sein Japanisch war nicht das Beste, aber diesen Unterschied kannte er. Van war sichergegangen, dass ihm niemand folgen konnte. Er war über verschiedene Stationen geflogen, hatte Teilstrecken mit dem Schiff zurückgelegt und immer einen anderen Pass benutzt. Doch vor Akiko konnte man sich nicht verstecken. Sie wusste alles und sah alles. Das war Teil ihrer Gabe.
„Sie haben eine Eliminierung beantragt.“ Van musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Endlich! Er hatte sie bis aufs Blut gereizt, war in ihren innersten Zirkel vorgedrungen. Der Gedanke, dass eines ihrer verhassten Wesen so tief in die Organisation vordringen konnte, ohne dass sie es bemerkt hatten, musste sie rasend machen. Jetzt würden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um einen Weg zu finden, ihm den erhofften Frieden zu bringen. Er war sich sicher.
„Danke für die Information.“ Er wollte gerade auflegen, als Akiko aufgeregt schrie: „Warte!“ Van horchte auf. Akiko war nie aufgeregt. Es war schwierig, überrascht zu werden, wenn man bereits alles wusste. Auch wenn es etwas komplizierter zu sein schien. Akiko konnte in die Zukunft sehen, musste jedoch Variantenlinien und Entscheidungstendenzen deuten und einbeziehen ... oder so ähnlich. Vans Japanisch war damals nicht sehr gut gewesen und er hatte nicht unhöflich sein wollen in dem Land der Höflichkeit, in dem man sich entschuldigte, wenn jemand einem auf den Fuß trat. Schließlich war man ja so unaufmerksam gewesen, seinen Fuß genau da zu platzieren, wo der andere hinzutreten plante.
Akiko wusste, Van würde den Brüdern nicht aus dem Weg gehen. Wieso sollte er auch vor etwas wegrennen, nach dem er schon so lange gesucht hatte? Sie musste die Konsequenzen deutlich sehen. Es juckte ihm in der Zunge nachzufragen. Würde er die so ersehnte Stille je finden, oder war er zu einer Ewigkeit in schmerzlichen Verwandlungen verdammt, den Trieben einer Bestie ausgeliefert?
Nicht mehr lange und er würde den Weg zu sich nicht mehr finden, würde vergessen, was ihn ausmachte und sich für immer in ein Tier verwandeln, das mordend durch die Lande zog. Wie viele Menschen, Tiere es schon getötet hatte ... er getötet hatte, wusste Van nicht. Anfangs war er aus einem schwarzen Loch erwacht, mit blutigen Händen und blutverschmierten Gesicht, den Geschmack von Eisen auf der Zunge und der Erinnerung an das Bersten seiner Knochen und die Verzerrung seiner Muskeln. Die Haut zerstochen von Millionen kleiner Nadeln.
Van schüttelte die Gedanken ab. Akiko würde es ihm nicht sagen. Sie war keine Spielverderberin. Nach einer harten Verwandlung, vor Schmerz und Scham am ganzen Körper zitternd, als jeder seiner Knochen sich anfühlte, als wäre er zehnmal gebrochen worden, hatte er gefragt. Akiko hatte mit einer trockenen Decke im Regen auf ihn am Waldrand gewartet. Damals war er bereit gewesen für die Antwort, war bereit gewesen, sich dem Tier für immer zu ergeben. Er hatte sich ein Nein gewünscht, um sich für immer in der Bestie verlieren zu können. Akiko hatte nur gelächelt, ihn in den Arm genommen, wie ein Kind hin und her gewiegt und gesagt, dass sie keine Spielverderberin sei.
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