Dann wurde sie endlich abgeholt. Ein kleiner, gedrungener Mann mit einem Lächeln, das in sein Gesicht getackert schien, kam die Treppe herunter. Er bewegte den Mund und Laute kamen heraus. Was hatte er gesagt?
„ Komm with ma! “ Was für eine Sprache war das? Er wusste hoffentlich, dass sie kein Chinesisch sprach. Sie hatte keine Ahnung, warum man sie überhaupt eingestellt hatte. Lina war zu dem Bewerbungsgespräch gegangen, um Erfahrungen zu sammeln. Dass man sie nehmen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Da das Männlein die Treppe hochlief, folgte sie ihm.
Eine chinesische Firma. In Deutschland, aber in chinesischen Händen. Asiaten nahmen es nicht so genau mit geregelten Arbeitszeiten. Überstunden wurden erwartet und waren mit dem Entgelt abgegolten, hieß es irgendwo in dem Vertrag, den sie ein paar Tage zuvor unterschrieben hatte.
Eine ausgestreckte Hand folgte der nächsten, ein Lächeln dem anderen, und sie vergaß einen Namen nach dem anderen, nickte aber freundlich und lächelte. Dann war das Händeschütteln vorbei.
„Die Vorgesetzten und Manager lernst du ein anderes Mal kennen“, wurde ihr in gebrochenem, kaum verständlichem Englisch mitgeteilt. Ein paar trugen Anzüge, wenige Jeans. Jeans waren okay. Schade, sie hatte sich extra für die neue Stelle Büro-Outfits zusammengestellt. Sie betonten die richtigen Stellen, ohne zu sexy zu sein. Lina hatte sich gerade gesetzt und schaute sich unsicher um, als er hereinplatzte, seine blonde Mähne in den Nacken warf und sie angrinste.
„Und wer sind Sie?“ Er sprach deutsch. Gott sei Dank! Ein Stein fiel ihr vom Herzen.
„Lina Mueller, die Neue“, gab sie zurück und streckte die Hand aus.
„Wir hatten Sie heute nicht erwartet. Sie haben noch keinen Vertrag unterschrieben.“
„Ich habe einen Vertrag mit der Zeitarbeitsfirma.“
„Was?“, rief er, „die Firma wollte einen direkten Vertrag mit Ihnen.“
„Das ist nicht meine Schuld. Ich habe lediglich den mir angebotenen Vertrag unterschrieben.“
„Nicht mit der Firma. Somit haben Sie keinen Vertrag. Gehen Sie nach Hause! Wir melden uns bei Ihnen.“ Noch bevor sie nachdenken konnte, hatte Lina ihre Jacke angezogen und das Büro verlassen. So etwas musste sie sich nicht anhören. In dem langen Flur wandte sie sich Richtung Fahrstühle, als ihr plötzlich jemand den Weg versperrte. Nur mit einer Notbremsung konnte sie den Aufprall verhindern.
„Entschuldigung“, murmelte sie und ihr Blick glitt langsam von gepflegten Schuhen über perfekt sitzende Anzughosen zu einem Hemd, die Ärmel leger hochgekrempelt. Die bronzene Haut hob sich spielerisch von dem perlweißen Stoff ab. Linas Blick folgte der pechschwarzen Tätowierung, die sich wie eine giftige Viper von seinem Handgelenk über seinen linken Arm schlängelte, um sich dann unter dem Stoff zu verlieren. Die obersten Knöpfe seines Hemdes waren offen, und Linas Augen blieben kurz in den Rundungen der Schlüsselbeine und der Halskuhle hängen. Sie unterdrückte den Drang, die Hand auszustrecken, um die Wölbung nachzufahren, und zwang ihren Blick weiter hoch zu den markanten Wangenknochen.
Dann trafen sich ihre Augen und Lina vergaß das Atmen. Durften Augen so unnatürlich blau sein? Sicher lag das an dem Kontrast zu den schwarzen Haaren, die ihm neckisch ins Gesicht fielen. Wie alt der Mann war, konnte Lina nicht sagen. Er wirkte zeitlos und strahlte Dunkelheit und Gefahr aus. Ihr Herz schlug schneller und all ihre Sinne schrien: „ LAUF !“ Der Drang zur Flucht riss wie ein Wasserfall jeglichen Wunsch nach Nähe mit sich, und doch hielten seine Augen sie gefangen. Wie ein Kaninchen vor der Schlange, kurz bevor sich die Zähne ins Fleisch gruben und sich das lähmende Gift in ihrem Kreislauf ausbreitete. Dem Raubtier ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Lina wurde schwindelig. Das mussten die Nerven sein. Sie hatte gerade nicht gesehen, wie sich seine Pupillen zu Schlitzen verengten!
„ Reiß dich zusammen, Lina Müller!“ Sie schüttelte etwas benommen den Kopf, murmelte noch einmal: „Entschuldigung“, und ging unsicheren Schrittes in einen der Fahrstühle. Sie spürte, wie er ihr mit seinem Blick folgte und lehnte sich erleichtert gegen die kühle Fahrstuhltür, als sie sich hinter ihr schloss. Tief durchatmen! Sie hatte keine Zeit für so etwas. Sie musste dringend ein Telefonat mit der Zeitarbeitsfirma führen.
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Lina lag im Bett. Sie wusste, was jetzt kommen würde. Alles zog sich in ihr zusammen. Sie spürte, wie es versuchte, von ihr Besitz zu ergreifen. Sie konnte sich nicht rühren. Panik stieg in ihr auf. Lina schob sie beiseite und klammerte sich an der Wut fest. Wut bedeutete Kraft. Panik und Angst bedeuteten Schwäche. Durch Schwäche würde sie gegen sich selbst verlieren. Jeder Atemzug tat weh, die Glieder waren schwer wie Blei und rührten sich keinen Millimeter.
Der Lichtschalter! Sie musste ihn erreichen. Das Licht würde die Dunkelheit vertreiben, und alles wäre wieder gut. Sie klammerte sich an diese Hoffnung, verdrängte für einen kurzen Augenblick die Panik, die sich mit der Angst vereinte und sie zu überfluten drohte. Millimeter für Millimeter der Erlösung entgegen. Aufgeben wäre so leicht , flüsterte ihr eine kleine Stimme verführerisch zu. Doch Geist und Körper schrien dagegen an. Stolz zerrte an ihr. Sie hatte sich noch nie ergeben!
Als es „klick“ machte, war es dunkler als zuvor, und sie lag wieder unerreichbar weit vom Lichtschalter. Wieder spürte sie die Präsenz einer fremden Macht in ihrem Geist, die versuchte, ihr die Kontrolle zu entreißen. Sie hasste es, keine Kontrolle zu haben, und aus ihrem Hass schöpfte sie erneut Kraft. Wie oft es sich diesmal wiederholte, wusste sie nicht. Als der Morgen anbrach, lag Lina erschöpft im Bett.
Die Nacht hatte keine Ruhe gebracht, keine Erholung. Angst schnürte ihre Kehle zu und unvergossene Tränen brannten in ihren Augen. Sie würde nicht weinen. Schwerfällig hob sie den Kopf und stützte sich auf. Ein hysterisches Kichern der Erleichterung entschlüpfte ihren ausgedörrten Lippen. Ihr Körper gehorchte ihr.
Bevor sie für eine Weile jeden Spiegel mied, musste sie sich ihm stellen. Sich vergewissern, dass ihr nicht die Augen einer Fremden entgegenblickten. Lina verfluchte ihre Herkunft und wünschte sich, normal aufgewachsen zu sein und nicht mit dem Glauben an Flüche, Dämonen, Geisterheilung und Wahrsagung. Rusalki – russische Meerjungfrauen, domovyje – Hausgeister und leshij – Waldgeister sollten Märchen bleiben, nicht nachts ihre Masken fallen lassen und nach Opfern lechzend aus den Schatten gekrochen kommen.
Lina schleppte ihren müden Körper zum Waschbecken, stützte die Hände auf den Rand und starrte in das Becken. Die Finger waren steif, und hätte sie mehr Kraft gehabt, wäre das Porzellan unter ihrem Druck zerborsten. Die Angst kroch wieder in ihr hoch, krallte sich mit eiskalten Klauen in ihren Unterleib. Sie hob langsam den Blick, ließ ihn unsicher vom Waschbecken über die Ablage gleiten, blieb kurz an der elektrischen Zahnbürste hängen, zögerte und blickte dann in Augen voller unendlichem Schmerz und Traurigkeit, die nicht ihre sein konnten. Linas Herz krampfte sich zusammen. Wer ihr auch gerade aus dem Spiegel entgegenblickte, musste alles Leid der Welt auf seinen Schultern tragen.
„ Wie lange noch? Wie lange würde es noch dauern, bis sich der Schmerz in Wut und Hass verwandelte ?“ Der Gedanke durchzuckte Linas Körper wie ein Blitz. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste sie, wer die Person im Spiegel war, spürte ihr Leid in sich. Mitleid wurde von Angst umspült und mitgerissen. Alles verschwamm vor ihren Augen und wurde schwarz.
…
Russland, Juli 1988
Eine faltige Hand, rau wie Schmirgelpapier, griff zitternd nach ihrer. Augen die nicht sehen konnten, blickten tief in ihre Seele. Das Zittern wurde immer stärker und drang bis in ihr kleines Herz, das vor Aufregung immer schneller schlug. Sie wollte die Hand wegziehen, der Berührung entkommen, die ihre Seele schändete und tief in sie eindrang. Doch zerklüftete Haut schloss sich fester um glatte, als eine gebrechliche Stimme hysterisch schrie: „ Ubjetje jejo, jej njelsja schjit. Ona vess mir ugrobit! Ubjetje jejo ! – Tötet sie! Sie darf nicht leben. Sie wird die Welt ins Verderben stürzen! Bringt sie um!“ Das Herz der kleinen Lina setzte aus, und sein leises Hämmern wäre für immer verstummt, wenn starke Hände sie nicht aus der Umklammerung der Pergamentklauen befreit hätten. Aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
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