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Bonn, Oktober 2010
Lina kam mit einem Schlag wieder zu Bewusstsein und blickte in weit aufgerissene Augen. Voller Panik und Angst. Sie war sie selbst. Es war lächerlich und traurig, aber hier und jetzt konnte sie ihr Selbst durch genau diese Gefühle definieren. Lina wäre erleichtert gewesen, wenn jene Erinnerung sich nicht an sie geklammert und ihre Krallen in sie gestoßen hätte. Es würde schwer werden, sie wieder abzuschütteln. Russisch, eine schöne Sprache. Ihre Muttersprache, und doch drangen die Laute wie Messerstiche in ihren Leib.
„ Ubjetje jejo! Jej njelsja schjit. Ona vess mir ugrobit! Ubjetje jejo ! – Tötet sie! Sie darf nicht leben. Sie wird die Welt ins Verderben stürzen! Bringt sie um!“
Worte, die niemand hören wollte. Worte, die man zu niemandem sagen sollte. Vor allem nicht zu einem sechsjährigen Kind. Sie schob den Gedanken beiseite. Es war Zeit, wieder normal zu sein. Sie musste zur Arbeit ... Hoffentlich war sie heute willkommen.
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„Da sind Sie ja schon wieder.“ Der Deutsche runzelte die Stirn.
„Ich habe einen Vertrag unterschrieben. Man hat mir gesagt, ich soll zur Arbeit kommen und da bin ich.“ Er seufzte und ergab sich.
„Setzen Sie sich zu unserem Trainee. Sie zeigt Ihnen ein bisschen was.“ Die Trainee war nett. Sie war Chinesin, lebte seit drei Jahren in Bonn und sprach sehr gut Deutsch. Sie hob den Vorhang des Unwissens und führte Lina in die Welt der Logistik ein. Sie erklärte ihr die Aufgaben eines Logistik-Spezialisten, denn das war Lina von nun an. Sie konnte kein Chinesisch, hatte keine Ahnung von Logistik und verstand kein Wort ihres Vorgesetzten. Ein toller Berufseinstieg. Aber als Japanologe konnte man nicht allzu wählerisch sein. Vor allem nicht, wenn man dazu Kunstgeschichte studiert hatte. Es war der erste Job, den man ihr angeboten hatte, und sie brauchte Geld.
Der Name des Blonden war Wolfgang. Er war gesellig und liebte es zu reden. Vor allem zu hetzen. Wuff passte zu ihm, denn er tat den lieben langen Tag nichts anderes als bellen. Er beschwerte sich über dies, das und jenes und erzählte viel zu viel über sein Privatleben. Lina wollte das nicht wissen, aber sie lächelte brav und nickte. Er erinnerte sie an einen Straßenwelpen, der bellend und knurrend hin und her lief, um allen zu zeigen, wie groß er schon geworden war.
Die anderen Kollegen waren nett und viele boten ihr sofort das Du an. Bald erfuhr Lina auch den Namen des Mannes, dem sie vor dem Fahrstuhl begegnet war. Van war Amerikaner, konnte zwar Deutsch, zog es aber vor, Englisch zu sprechen. Er war Projektmanager und auch noch nicht lange dabei. Sie liefen sich ein paar Mal in den Fluren über den Weg und Lina war jedes Mal erleichtert, wenn er ihr nur freundlich zunickte und weiterging. Sie wurde das Prickeln in den Zehen nicht los, wenn sie an seine Augen dachte. Doch bevor Lina in ihren ersten wohlverdienten Feierabend gehen konnte, rief er sie in sein Büro.
Mit etwas flauem Magen betrat sie die Räumlichkeiten. Lina streckte den Rücken durch, hob das Kinn ein wenig und lächelte ihn an. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als er ihr Lächeln erwiderte. Ihre Alarmglocken läuteten schrill. Der Mann war gefährlich, sie musste auf der Hut sein.
„Hast du dich etwas eingelebt?“ Lina bejahte Vans Frage und nach dem Austausch von ein paar weiteren Höflichkeitsfloskeln hatte Lina das Gefühl, glimpflich davon gekommen zu sein. Sie wandte sich Richtung Tür, als er nebenbei fragte: „Dinner?“
„Jetzt?“, erwiderte Lina überrumpelt.
„Wir gehen Freitag nach der Arbeit.“ Das war keine Frage.
Sie schaute ihm überrascht und fasziniert in die Augen, während sie in Gedanken nach einem guten Grund suchte, warum sie am Freitag nicht mit ihm essen gehen konnte. Als sie den Mund aufmachen wollte, um ihm eine fadenscheinige Ausrede zu präsentieren, schloss sie ihn wieder, ohne dass ihm ein Laut entschlüpfte. Sie nickte und ging.
Die Nacht hatte sie wohl mehr geschlaucht als angenommen. Warum sollte sie sich sonst einbilden, dass sich menschliche Pupillen zu Schlitzen verengten? Lina konnte das Gefühl nicht abschütteln, von einer Raubkatze fixiert zu werden, die jeden Moment über ihre Beute herfallen würde. Ihr liefen eisige Schauer über den Rücken. Über sie herfallen? Warum sollte er über sie herfallen, und warum kribbelten ihre Zehen bei diesem Gedanken schon wieder?
*
Und da war sie aus seinem Büro verschwunden.
Was für eine faszinierende Frau. Ihre Körperhaltung und ihr Lächeln drückten Selbstbewusstsein aus, während er in ihren Augen deutlich den Wunsch nach Flucht lesen konnte. Heute hatte sie einen leichten Geruch von Furcht an sich. Van konnte ein leises, erregtes Knurren nicht unterdrücken. Wenn er ihr nahe war, erwachte das Tier aus seinem Schlummer, nahm die Witterung auf und wollte ... wollte was? Das Bedürfnis, seine Krallen oder seine Fangzähne in ihrem Fleisch zu versenken, hatte es nicht. Was den Mann betraf ...
Die Bruderschaft hatte ihn hier eingeschleust, damit er ein Auge auf die Firma werfen konnte. Sie hatten der Beschattung den Projektnamen „Tiger and Dragon“ gegeben. Eine alberne und verbrauchte Symbolik. Westen gegen Osten. Der mächtige Tiger im Kampf gegen den gewaltigen Drachen. Vielleicht konnte er die Pflicht mit etwas Spaß verbinden. Schneller, sinnloser Sex würde ihm Lust bereiten und das Tier besänftigen. Er mochte die Jagd und das Bild einer Frau auf der Flucht brachte sein Blut in Wallung, vor allem, wenn sie so stolz und schön war wie Lina. Bei dem Gedanken, was er mit seinem neu gefundenen Spielzeug alles anstellen würde, packte ihn die Unruhe. Van musste an ihre helle Haut nackt auf dunkler Seide denken. Seine Finger in ihr langes, braunes Haar gekrallt und ihr grünen Augen weit aufgerissen und vernebelt von einer Mischung aus Angst und Verlangen.
Sein Inneres pulsierte, die Knochen bewegten sich langsam in unnatürliche Richtungen. Sein linker Arm brannte und er spürte, wie sich das Schwarz der Tätowierung durch die Haut fraß. Van atmete schwer. Daran war sie schuld. Mit ihrem Geruch, ihrer Vorsicht, die bei jeder noch so kleinen Bewegung in Angst und Flucht umzuschlagen drohte ...
Van atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er musste die Triebe des Tieres befriedigen, bevor es zu stark wurde und völlig seiner Kontrolle entglitt. Van dachte an die Bewegung ihrer Hand, wenn sie ihr langes Haar nach hinten warf. Es sollte in der Nähe einen Wald geben. Ein wenig rennen, ein Kaninchen und ein Reh würden das Tier beruhigen, wenn auch nicht für lange. Gedankenverloren spielte er mit dem Ring an seinem Daumen, strich über das Auge im Zentrum des Dreiecks.
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Sie hatte es den ganzen Tag nicht aus dem Kopf bekommen, und jetzt war sie mitten drin. Lina saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete Van aus dem Augenwinkel. Er hatte eine dunkle Jeans an, ein schwarzes Hemd und eine Lederjacke. Nichts erinnerte an einen Manager, außer der Tatsache, dass sie in einem Firmenwagen saßen. Das Essen war ruhig und gemütlich verlaufen. Jetzt waren sie auf der Suche nach einem Absacker. Als Van vor dem Hilton Hotel hielt, wurde Lina flau im Magen und sie verkrampfte sich. Hotels und Männer waren keine gute Kombination.
„Ich bin schon so häufig auf Geschäftsreisen gewesen, dass sich Hotels wie zu Hause anfühlen. Da kann ich mich richtig entspannen. Außerdem bekommt man hier den guten Stoff, nicht den billigen Fusel wie in Bars.“ Er hatte ihre Nervosität wohl bemerkt. Deutlich entspannter lächelte sie ihn an. Der Abend war bisher gut verlaufen. Es gab keinen Grund, dass ihre Alarmglocken Sturm läuteten ... Und doch hatte sie dieses penetrante Klingeln im Ohr. Bekam sie etwa Tinnitus? Während seine Bewegungen in ihre Richtung den Wunsch nach Flucht hervorriefen, schrie ihre Haut bei zufälliger Berührung nach mehr. Sie musste sich in den Griff kriegen.
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