1 ...6 7 8 10 11 12 ...33 Stattdessen starren mich die beiden mit großen Augen an, als hätten sie nie zuvor ein Handy gesehen. Bei allem Respekt vor ihrer Schauspielkunst – man kann es auch übertreiben! Wirklich seltsame Typen.
Ich schultere seufzend meine Handtasche, lege das geliehene Tuch auf den Stuhl, auf dem ich gesessen habe und begebe mich zur Tür, um mich auf den Weg zur U-Bahnstation zu machen. Wenn Alex und Gregor es lustig finden, mich hier einfach alleine zu lassen, dann sollen sie jetzt mal sehen, dass ich auch ohne sie zurechtkomme. „Nichts für ungut, aber ich gehe dann jetzt. Vielen Dank nochmal für Ihre Gastfreundschaft“, verabschiede ich mich erneut und öffne, ohne eine Antwort abzuwarten die Tür.
Dahinter erscheint der vordere Teil von Alex‘ Laden. Der mit dem großen Sprossenschaufenster, in dem der Stuhl, der Globus und die Porzellantassen gestanden haben. Jetzt hingegen ist davon nichts mehr zu sehen. Stattdessen kann ich in dem fast dunklen Raum, der lediglich vom schwachen Schein der Lampe auf Sievekings Schreibtisch erhellt wird und der durch die verglaste Wand fällt, einen langen Tresen erkennen. Darauf stehen ebenfalls mehrere Tintenfässer und liegen fein säuberliche angeordnete Papierstapel. Hinter dem Tresen befinden sich weitere Schreibtische, ähnlich wie der im Raum hinter mir. Linker Hand entdecke ich eine weitere Tür, von der ich annehme, dass sie zum Ausgang führt.
Jedenfalls sieht sie genauso aus, wie der Eingang von Alex‘ Laden, durch den man in die große Eingangshalle des Hauses mit der bemalten Decke und dem Messingleuchter kommt. Allmählich kommt mir nun doch der Verdacht, dass ich hier in etwas Größerem stecke als in einer albernen Fernsehshow. Warum sollten sich die Fernsehfuzzies die Mühe machen, noch einen weiteren Raum zur Kulisse umzugestalten? Das wäre doch sinnlos.
Außerdem fühlt sich das alles hier um mich herum eigenartig wirklich an: Die Räume, die Deko, die beiden Männer mit ihren vornehmen Klamotten, ihrer gestelzten Sprache und ihrem altmodischen Benehmen… Die komplette Szenerie wirkt bis ins Detail so echt und in sich stimmig. Das einzig Falsche an diesem Ort scheine tatsächlich ich selbst zu sein.
Unsicher bewege ich mich auf den Ausgang zu. Wer weiß, was mich dahinter erwartet? Und was mache ich, wenn diese eigenartige Kulisse, in der ich hier gelandet bin, dahinter noch weitergeht?
Noch ehe ich aber auch nur einen Schritt auf die Tür zugemacht habe, dringt ein energisches „Halt!“ an mein Ohr, das mich unwillkürlich innehalten lässt.
Langsam drehe ich mich um und erblicke Henry Sieveking, der nach wie vor mitten im Büro seines Bruders steht und mich streng fixiert. Sein langer Schatten fällt auf mich, so als sei ihm ein zusätzlicher Arm gewachsen, mit dem er mich festhält.
Ich führe es auf meine Unsicherheit über meine derzeitige Situation zurück, dass ich auf ein einziges Wort von ihm gleich derart spure – er hat allerdings etwas derart Autoritäres an sich, dass man sich wirklich anstrengen muss, um ihm Widerstand zu leisten. Trotzdem ärgere ich mich über mein Verhalten und versuche meinen vermeintlichen Gehorsam auszugleichen, indem ich unwirsch schnappe: „Was ist denn noch?!“
Seine steile Stirnfalte vertieft sich. Offensichtlich ist er Widerspruch nicht gewohnt.
„Zwar bin ich mir noch keineswegs schlüssig, wer oder was Sie sind“, beginnt er nachdenklich, „noch habe ich eine Erklärung dafür, woher Sie derart unerwartet gekommen sind. Aber eines scheint mir sicher: In dem nervösen Zustande, in dem Sie sich derzeit befinden, dürfen wir Sie sich nicht sich selbst überlassen.“
„Ach nein? Und was schlagen Sie also vor?“, erkundige ich mich neugierig.
„Nun, in Anbetracht der doch inzwischen weit vorgeschrittenen Stunde scheint es wohl das Sinnvollste zu sein, wenn Sie für heute Nacht hier bei uns im Hause Quartier beziehen. Schließlich hat Ida Ihnen bereits eines der Gästezimmer hergerichtet“, schaltet sich nun der freundliche Eduard ein und tritt neben seinen Bruder. „Und morgen früh sehen wir weiter. Bestimmt gelingt es uns dann leichter, etwas über den Verbleib der beiden Herren herauszufinden, die Sie uns gegenüber erwähnten.“
Misstrauisch sehe ich die beiden Männer an.
„Wie kommen Sie dazu, mir - einer völlig fremden Person - einfach so eine Übernachtungsmöglichkeit anzubieten?“, frage ich und lasse keinen Zweifel daran, dass ich mich innerlich frage, was die beiden wohl tatsächlich im Schilde führen.
„Offen gestanden frage ich mich das auch“, entgegnet der blonde Henry trocken und wirft seinem Bruder einen kurzen Seitenblick zu, bevor er seine Grimmigkeit wieder uneingeschränkt auf mich richtet. „Berücksichtigt man jedoch, dass Sie scheinbar aus dem Nichts in unserem Hause aufgetaucht und uns buchstäblich vor die Füße gefallen sind, resultiert daraus wohl unvermeidlich eine gewisse Verantwortung unsererseits für Ihre Person.“
„Abgesehen davon, dass es für uns als Männer von Ehre eine Selbstverständlichkeit sein dürfte, einem hilflosen Frauenzimmer, welches in unserem Hause Schutz sucht denselbigen auch zu gewähren“, ergänzt Eduard.
Zwar kann ich mich nicht erinnern die beiden um ihren Schutz gebeten zu haben, und als „hilfloses Frauenzimmer“ hat mich noch nie jemand bezeichnet. Aber Eduard Sieveking blinzelt mich derart freundlich an, dass ich mir plötzlich sicher bin, in ihm und seinem Bruder keine verkappten Zuhälter, sadistischen Triebtäter oder Meuchelmörder vor mir zu haben. Dafür sehen die zwei irgendwie zu anständig aus, sogar der grimmige Henry.
Außerdem fühle ich mich plötzlich unendlich müde, als hätte ich einen Jet-Lag nach einer stundenlangen Flugreise aus Übersee. Der Sturz, die Ohnmacht und dann mein kurzzeitiges Aufbäumen gegen diese ganze kafkaeske Situation scheinen meine letzten Energiereserven verbraucht zu haben. Gleichzeitig bin ich vollkommen verwirrt und verunsichert von alledem, was mir hier gerade passiert. Und zu allem Überfluss findet mein Handy nach wie vor nicht die Spur von einem Netz, wie mir ein letzter Blick darauf verrät. Kurzum: ich bin gerade ziemlich aufgeschmissen. Zuletzt habe ich mich als Kind derart ratlos und verloren gefühlt.
„Vielleicht haben Sie recht“, stimme ich also resigniert zu und stecke mein Handy in die Tasche zurück. „Eine Mütze voll Schlaf wäre bestimmt jetzt nicht das Schlechteste.“
Und vielleicht ist dieser Albtraum morgen beim Aufwachen einfach vorbei?
Freitag, 19. August 2016
Mit einem Mal überschlagen sich die Gedanken in seinem Kopf. Mal angenommen, dass er – Alexander Wahle – nicht verrückt ist, sondern dass dies alles tatsächlich so geschieht: woher kommen und gehen diese Personen dann? Und wer oder was bewirkt ihr plötzliches Auftauchen oder Verschwinden?
Er geht erneut zu dem Spiegel, durch den Lena gefallen ist und lässt sich Gregors Bemerkung von vorhin nochmals durch den Kopf gehen: Sollte dieser Spiegel etwas damit zu tun haben, dass Lena so plötzlich fort ist? Immerhin ist es ein besonderer Spiegel, nicht nur wegen seines hohen Preises.
‚Das ist doch verrückt!‘, schaltet sich eine zweite innere Stimme ein. Wie soll ein simpler Spiegel denn einen Menschen verschwinden lassen können?!
‚Ein simpler Spiegel?‘, fragt seine erste Stimme zurück. ‚Ein simpler ganz bestimmt nicht. Aber eventuell dieser hier?! Ein original legendenumwobener Lohrer Spiegel?‘
Alex betrachtet die französische Inschrift auf den beiden Medaillons des Rahmens. „Regardez les temps“, formen seine Lippen nachdenklich und probieren verschiedene Übersetzungen: „Betrachtet die Zeiten. Schauen Sie die Zeiten. Seht euch die Zeiten an… Die Zeit?“ Er hebt zögernd das rechte Bein und steigt damit vorsichtig durch die gesplitterte Spiegelfläche hindurch.
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