Neben der Pfeife steht dekorativ ein Tintenfass mit einer echten Feder darin. Dahinter türmen sich dicke ledergebundene Bücher und jede Menge Papier. Dazwischen leuchten die bunten Einzelteile der Schäferin wie Fremdkörper im fahlen Licht der Lampe, die auf der rechten Ecke des Schreibtisches steht und die einzige Lichtquelle im Raum darstellt.
Ich gönne der Lampe einen genaueren zweiten Blick und stelle irritiert fest, dass sie keine Birne hat, sondern dass hinter ihrem Schirm aus mattem Glas eine Flamme leuchtet.
Freitag, 19. August 2016
„Was machen wir denn jetzt? Rufen wir die Polizei?“, fragt Alex schließlich ratlos und gibt sich gleich selbst die Antwort darauf: „Aber was sollen wir denen erzählen? Dass deine Schwester vor unseren Augen in den Spiegel gefallen und verschwunden ist?!“
Mit einem Mal fällt ihm wieder eine Nacht vor ungefähr vier Wochen ein, als er schon einmal die Polizei gerufen hat. Mitten in der Nacht hat er einen Einbrecher aufgeschreckt, der in seinem Badezimmer aufgetaucht und dann durch die Wohnungstür geflüchtet ist. Weder die Polizisten, noch er selbst konnten bisher eine logische Erklärung dafür finden, wie der Mann in die Wohnung gelangt sein kann, befindet diese sich doch im 4. Stock und ist das Bad zudem auch noch fensterlos. Außerdem ließen sich an seiner Wohnungstür keine Einbruchsspuren feststellen.
Der Vorfall ist nach wie vor mehr als rätselhaft und hat Alex eine ganze Menge schlafloser Nächte eingebracht, in denen er auf jedes noch so kleine Geräusch gehorcht hat. Da der Einbrecher aber offensichtlich nichts entwendet hat, laufen die Ermittlungen der Polizei nur sehr schleppend und werden wohl schon sehr bald eingestellt werden.
Auch Alex selbst kommt über die Geschichte allmählich hinweg und hat in den letzten Tagen wieder ruhiger geschlafen. Nun allerdings kommen die Erinnerungen wieder hoch. Nicht nur das Gefühl der Hilflosigkeit, das man verspürt, wenn man vor einem scheinbar unlösbaren Rätsel steht, sondern leider auch, wie die beiden ermittelnden Beamten ihn gemustert und ihn freundlich aber bestimmt um einen Alkoholtest gebeten haben. Was würde man wohl bei der Polizei von ihm denken, wenn er nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen mit einer ähnlich eigenartigen Geschichte ankäme? Sehr wahrscheinlich würden sie doch nur den Kopf über ihn schütteln und ihm freundlich anraten, mal einen Psychologen aufzusuchen…?
„Ich befürchte, die Polizisten würden uns eher verdächtigen etwas Illegales geraucht zu haben, als uns zu helfen“, entgegnet Gregor da zu Alex‘ Erleichterung. „Und wie sollen sie uns auch helfen? Lena hat sich ja geradezu in Luft aufgelöst!“
Alex nickt nachdenklich. „In Luft aufgelöst. Du sagst es.“ Was geht hier bloß vor? Zuerst taucht ein Mann wie aus dem Nichts in seinem Bad auf, und nun verschwindet eine junge Frau vor seinen Augen nach… ja wohin denn? In dasselbe Nichts vielleicht, aus dem der Fremde im Bad gekommen ist?!
Ich blicke mich im Zimmer um und stelle fest, dass es auf einmal viel kürzer ist als zuvor. Es scheint so, als habe man mitten durch die Länge von Alex‘ Laden eine Wand aus Sprossenfenstern eingezogen und daraus zwei hintereinanderliegende Räume gemacht.
Auch sind die Teppiche und die gesamte Ware aus dem Geschäft verschwunden. Übrig geblieben sind der große, überquellende Schreibtisch sowie eine ganze Wand voller Regale, die mit Kladden und Papierkram gefüllt sind. In der Ecke links hinter mir steht außerdem noch eine einfache Holzbank hinter einem runden Tischchen, um das drei weitere Stühle platziert sind, mit dem gleichen grüngestreiften Stoff bezogen wie der, auf dem ich gerade sitze. Die Wand hinter der Sitzecke ist gepflastert mit gerahmten, kolorierten Zeichnungen von lauter historischen Großsegelschiffen, denen gemeinsam ist, dass sie am Hauptmast die Flagge derselben Reederei tragen.
Wären da nicht mein brummender Schädel und die zertrümmerte Schäferin als Beweis, dann würde ich schwören, an einem völlig anderen Ort zu sein als noch kurz zuvor.
Ich betrachte die beiden Männer, die sich zwischenzeitlich die Westen wieder zugeknöpft und sogar jeweils eine frackähnliche Jacke übergeworfen haben. Was haben die denn noch Großes vor? Wollen die in der Oper auftreten oder machen sie sich für eine schicke Hochzeit bereit? Sollte meine letzte Vermutung stimmen, steht allerdings zu befürchten, dass sie mit ihren eleganten Stoffhosen, den weißen, steif gestärkten Hemden und den Fräcken am Ende bestimmt vornehmer aussehen als der Bräutigam selbst. Meiner Ansicht nach ist ihr Outfit an Eleganz kaum noch zu toppen, wenn man mal von den Stiefeln absieht, die sie beide tragen und deren Anblick mich an Zirkusdirektoren erinnert. Es fehlen jeweils nur noch ein steifer Zylinder auf dem Kopf sowie eine überlange Peitsche.
Der jüngere mit dem Schnurrbart sieht sogar noch ein wenig förmlicher aus als der Ältere. Er trägt an seinem Hemd einen engen, steif hochstehenden Kragen, der ihm bestimmt das Atmen erschwert. Zumindest aber das Drehen seines Kopfes. Man kann nur hoffen, dass er mit dieser Halskrause nicht Autofahren will. Das sollte er dann besser dem grimmigen Blonden überlassen. Die beiden betrachten mich immer noch, als wüssten sie nicht so recht, was sie mit mir anfangen sollen. Dabei spielt der Jüngere nachdenklich mit einem Siegelring, den er an der linken Hand trägt.
Ich kann ihnen ihre Irritation über unser unverhofftes Zusammentreffen nicht verdenken. Mir geht es mit ihnen schließlich umgekehrt genauso. Wo kommen die beiden bloß so plötzlich her? Handelt es sich bei ihnen vielleicht um zwei späte Kunden, die noch während meiner geistigen Umnachtung den Antiquitätenladen betreten haben, um ein Last-Minute-Hochzeitsgeschenk zu besorgen? In diesem Fall kann ich nur für sie hoffen, dass sie gut bei Kasse sind, denn Alex‘ Preise sind ja nicht von Pappe.
Wobei mir der zerstörte Spiegel wieder einfällt. Ob Gregor und Alex vielleicht gerade in dessen Büro verschwunden sind, um die Versicherungsformalitäten zu regeln? Aber das sähe Gregor irgendwie so gar nicht ähnlich. So verliebt kann er gar nicht sein, dass er mich einfach ohnmächtig in den Händen von zwei völlig Fremden zurücklassen würde, bloß um blöden Papierkram zu erledigen, nicht einmal mit Alex.
„Wo sind Gregor und Alex?“, wende ich mich an den Schnurrbärtigen, der mir der Zugänglichere von den beiden Befrackten zu sein scheint.
Er hebt überrascht die Augenbrauen. „Gregor und Alex? Wollen Sie damit vielleicht andeuten, dass es noch mehr ungebetene Gäste gibt?“ Er wirkt leicht beunruhigt. Vielleicht ist er für die Organisation der Hochzeit zuständig und macht sich jetzt Sorgen wegen der Verteilung der Sitzplätze?
„Keine Sorge, wir sind keine Hochzeitsgäste. Alex ist der Besitzer dieses Ladens, und mein Bruder und ich wollten mit ihm hier eigentlich nur gemeinsam zu Abend essen. Aber wir werden natürlich so lange warten, bis Sie ein passendes Geschenk gefunden haben“, erkläre ich großzügig.
Die Herren tauschen einen vielsagenden Blick.
„Mir scheint, Sie sind aufgrund Ihres Sturzes noch ein wenig verwirrt“, meint der Schnurrbärtige. „Lassen Sie sich von mir versichern, dass hier weder eine Hochzeit stattfindet noch dass es sich bei diesen Räumlichkeiten um einen Laden handelt. Auch der von Ihnen genannte Alex ist mir kein Begriff.“
„Keine Hochzeit und kein Laden?“, murmle ich irritiert. Was soll das hier werden? Versteckte Kamera?
Unwillkürlich wandert mein Blick durch den Raum und untersucht ihn auf mögliche Verstecke. Aber ich kann nichts Verdächtiges entdecken. Falls es sich um einen Fernsehstreich handeln sollte, dann ist er extrem gut gemacht: Die plötzlich so veränderte Umgebung, die beiden Typen im Frack – das alles wirkt eigenartig real auf mich und kann doch gleichzeitig gar nicht echt sein. Ich weiß doch, dass ich mir kurz zuvor noch mit Gregor und Alex die antiken Möbel angesehen habe! „Wenn dies nicht Alex‘ Laden ist, wo bitte befinde ich mich denn dann?“, erkundige ich mich bei dem freundlichen Schnurrbart. Den Grimmigen habe ich beschlossen zu ignorieren.
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