1 ...7 8 9 11 12 13 ...33 „Was machst du da?“, erkundigt sich Gregor, der das Verhalten seines Freundes verständnislos beobachtet hat.
Alex, der inzwischen unversehrt auf der Rückseite des Spiegels angekommen ist, dreht sich zu ihm um. Auf seinem Gesicht malt sich Enttäuschung ab, als er Gregor durch den Rahmen hinweg ansieht und erklärt: „Ach, ich hatte plötzlich so eine Idee. Aber sie war wohl falsch.“
„Was war das für eine Idee?“
„Nun ja. Du wirst mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Aber für einen Moment dachte ich darüber nach, was wäre, wenn man die Inschrift auf dem Spiegelrahmen tatsächlich wörtlich nehmen würde.“
„Regardez les temps - Betrachtet die Zeiten. Was kann man daran anders verstehen, als dass man im Spiegel seinen eigenen körperlichen Verfall beobachten kann, so wie Lena vorhin meinte?“
Vorhin. Gregor lauscht seinen eigenen Worten nach. Ist es tatsächlich erst eine knappe Viertelstunde her, seitdem Lena in den Spiegel gestolpert und dahinter verschwunden ist? Ihm kommt es bereits jetzt wie eine halbe Ewigkeit vor.
Noch immer glaubt er daran, dass es sich hierbei um einen Streich seiner Schwester handelt, dass sie gleich aus irgendeiner Ecke des Ladens hervorkriechen und „April, April“ rufen wird. Obwohl ein solches Verhalten ihr kein bisschen ähnlich sehen und ihn, Gregor, in äußerste Besorgnis versetzen würde. Aber im Moment wäre es ihm lieber sich über die geistige Gesundheit seiner Schwester Gedanken machen zu müssen, als überhaupt nicht zu wissen, wo sie sich derzeit befindet und ob es ihr gut geht.
„Was könnte an ‚Betrachtet die Zeiten‘ wörtlich zu verstehen sein?“, wiederholt er seine Frage und wendet seine Aufmerksamkeit wieder Alex zu. „Verbirgt sich in dem Spiegel etwa eine Uhr?“
„Nein“, Alex schüttelt den Kopf. „Ich dachte in eine ganz andere Richtung. – Wahrscheinlich bin ich darauf gekommen, weil ich neulich in einem ersteigerten alten Reisekoffer ein Buch gefunden habe. Es war eine Erstausgabe von H.G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“ aus dem Jahr 1895.“
Normalerweise hätte Gregor durchaus Freude daran zu hören, dass sein Freund mit dem ersteigerten Koffer offenbar einen besonders guten Kauf getätigt hat und ihm die gewiss kostbare Erstausgabe als zusätzliches Geschenk in den Schoß gefallen ist. Unter den gegebenen Umständen aber, interessieren ihn antiquarische Romane von wem auch immer nicht im Geringsten. Dementsprechend entgegnet er ungeduldiger als es sonst der Fall wäre: „Ja, und was ist jetzt damit? Was hat dieses Buch mit dem Spiegel und meiner Schwester zu tun?“
„Das Buch? Na, es geht darin um eine Zeitmaschine. Und als ich mir den Spruch auf dem Spiegelrahmen durch den Kopf gehen ließ, dachte ich eben, dass man sich mit Hilfe des Spiegels vielleicht auch andere Zeiten ansehen kann?“ Alex kratzt sich verlegen am Kopf. Es ist ihm wohl bewusst, dass diese Idee in Gregors Ohren reichlich haarsträubend klingen muss.
„Du meinst, das Ding ist ebenfalls so eine Art Zeitmaschine?“, hakt Gregor nach und kann seine Skepsis nicht verbergen. „Und „Betrachtet die Zeiten“ wäre dann die Aufforderung einfach hindurchzutreten und mit Hilfe des Spiegels die eigene Gegenwart zu verlassen?“
„So in der Art, dachte ich. Ja“, nickt Alex, noch immer ein wenig unsicher. „Aber ganz offensichtlich war der Gedanke falsch, denn wäre meine Idee richtig, dann müsste ich ja jetzt auch irgendwo anders sein, nachdem ich durch den Rahmen gestiegen bin, oder?“
„Nicht unbedingt“, meint Gregor nachdenklich. „immerhin ist der Spiegel jetzt kaputt. Wenn überhaupt, dann funktioniert er doch bestimmt nur, solange seine Scheibe intakt ist?“
„Sehr wahrscheinlich“, nickt Alex, erleichtert darüber, dass Gregor ihn nicht gleich für übergeschnappt erklärt, sondern sich auf den Gedanken zumindest eingelassen hat.
Plötzlich dröhnt das schrille Piepen des Rauchmelders im Büro durch den Laden.
„Mist! Der Nudelauflauf!“, entfährt es Alex. Er eilt, so schnell es in der Enge des Ladens möglich ist, in sein Büro, wo bereits blauschwarzer Rauch aus dem Ofen hervordringt. Hastig reißt er Fenster und Ofentür auf und stellt dann den zu Kohle verbrannten Auflauf auf das Fensterbrett.
Gregor ist ihm gefolgt und wedelt mit einem Küchentuch den beißenden Qualm in Richtung Fensteröffnung, während Alex auf einen Stuhl steigt und dafür sorgt, dass der Rauchmelder endlich Ruhe gibt. Erleichtert über die schlagartige Ruhe, lässt er das Küchentuch sinken und schenkt dann dem schwarzen Auflauf einen finsteren Blick, erscheint ihm dieser doch gerade wie ein Sinnbild für das ganze unübersichtliche Desaster, in das sie da soeben hineingeraten sind.
Auch Alex betrachtet die noch immer dampfende und nach wie vor gefährlich vor sich hin brodelnde Masse. „Also ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir hat es gerade jeglichen Appetit verdorben“, meint er trocken.
Gregor antwortet bloß mit einem tiefen Seufzer, der die gesamte Verzweiflung zum Ausdruck bringt, die ihn angesichts des rätselhaften Verschwindens seiner Schwester überfallen hat. „Was mache ich denn jetzt bloß? Was erzähle ich Johannes, wenn er fragt, wo Lena ist?“
„Falsch.“ Alex schüttelt den Kopf, nimmt ihm das Küchentuch aus der Hand und legt es beiseite. Dann umarmt er Gregor fest, bevor er richtigstellt: „Was machen wir?“
Freitag, 19. August 2016
„Ich schreibe Johannes eine Nachricht. Darin behaupte ich, wir hätten uns alle drei den Magen verdorben, weshalb wir nicht zu seinem Auftritt kommen können“, überlegt Gregor laut und zieht sein Handy aus der Hosentasche.
Inzwischen sind fast zwei Stunden vergangen, seitdem Lena durch den Sprechenden Spiegel gefallen ist, und noch immer gibt es von ihr nicht den Hauch einer Spur. Obwohl Alex und Gregor mehrmals immer wieder zum Spiegel zurückgegangen und dessen Umgebung abgesucht haben, bleibt sie unauffindbar. Sie beide und Gregor insbesondere, haben eine Achterbahn der Gefühle hinter sich: Unverständnis, Angst, Wut, Resignation, dazwischen immer wieder Hoffnung und danach Enttäuschung, wenn eine weitere Idee, was mit Lena sein könnte, sich wieder als falsch herausgestellt hat.
Alex hat die Zeit genutzt, um seinem Freund zu erklären, dass Lenas Verschwinden nicht das erste unerklärliche Ereignis ist, das sich in diesem Hause abgespielt hat, sondern dass es im letzten Monat bereits das Auftauchen des rätselhaften Fremden gab, für das sich keinerlei logische Erklärung finden ließ. Er hat Gregor auch erläutert, wie er aufgrund dessen auf die Idee kam, der Spiegel könne bei Lenas Verschwinden eine Rolle spielen – auch wenn in seinem Badezimmer oben im vierten Stock kein antiker Spiegel an der Wand hängt, sondern bloß ein verglaster Hängeschrank. Die Erinnerung an den Titel seines Bücherfundes in dem alten ersteigerten Koffer, war dann lediglich noch das letzte Tüpfelchen auf dem i, um ihn an eine Zeitmaschine denken zu lassen.
Obwohl Gregor sichtlich mit sich gerungen hat, solche fantastischen Erklärungen nicht als Hirngespinste abzutun, hat er sich Alex zuliebe auf den Gedanken eingelassen und ihn als möglich in Betracht gezogen. Ein Umstand, der zum großen Teil auch darauf zurückzuführen ist, dass er ja schließlich mit eigenen Augen gesehen hat, wie Lena vollkommen spurlos durch den Spiegel verschwunden ist. Trotzdem fällt es ihm noch immer schwer, ein solch magisches Denken zu akzeptieren. Immer wieder läuft er zum Spiegel hin, um ihn zu untersuchen. Er zermartert sich das Hirn nach einer anderen, physikalisch erklärbaren und für ihn logisch klingenden Lösung, aber er findet keine.
„Ich kann es hin und herdrehen wie ich will, am Ende komme ich doch immer wieder zu dem Ergebnis, dass du vielleicht recht haben könntest, so irre die Vorstellung auch sein mag!“, ruft er schließlich aus und sieht Alex dabei kopfschüttelnd an, so als könne er es noch immer selbst nicht fassen, zu diesem Schluss gekommen zu sein. „Das Einzige, das aber in jedem Fall feststeht“, fügt er stirnrunzelnd hinzu, „ist die Tatsache, dass Lena wohl so schnell heute nicht wiederkommen wird und wir Johannes eine glaubhafte Begründung liefern müssen, warum wir drei nicht in Altona aufkreuzen.“
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