Mit der Kerze in der Hand bin ich dann vor Müdigkeit wankend in das Zimmer getreten, das hauptsächlich von eben diesem Wolkenbett eingenommen wurde, in dem ich mich gerade befinde. Nur mit Mühe, ist es mir dann noch gelungen die Kerze in einen kleinen Halter auf dem Nachttisch zu befestigen und meine Sneakers auszuziehen, bevor ich mich in die Wattekissen habe fallen lassen und anschließend in einen derart tiefen Schlaf fiel, als hätte ich eine strapaziöse Reise hinter mir.
Plötzlich poltert es irgendwo über mir, ein kurzer Ruf erschallt und dann ertönt ein dumpfes Rumpeln, das das Bett ebenso wie die Fensterscheiben zum Vibrieren bringt. Es hört sich an, als ob eine U-Bahn direkt durch die Eingeweide des Hauses fahren würde.
Schlagartig bin ich hellwach. Was, um Himmels Willen, ist das? Ich setze mich auf und begreife, dass der vermeintliche Traum gar kein Traum war. Dass der nächtliche Weg im Kerzenschein durch das riesige Haus tatsächlich stattgefunden hat und dass der freundliche junge Mann dabei Eduard Sieveking war. Es ist also nicht vorbei. Ich bin noch immer in dem Haus, in dem ich gestern Abend Herrn Sieveking und seinen Bruder kennengelernt habe. Einem Haus ohne Strom, ohne W-LAN, ohne Handynetz. Und die Leute, die sich als seine Eigentümer betrachten sind zwei Typen in steifen Klamotten und mit noch steiferem Benehmen, sowie einer seltsam altertümlichen Ausdrucksweise.
Vorsichtig betaste ich meinen Hinterkopf, an dem nach wie vor eine dicke Beule pocht. Die Beule, die ich mir zugezogen habe, nachdem ich in Alex‘ antiken Spiegel gefallen und dann mit dem Hinterkopf gegen die Wandvertäfelung geprallt bin. Ein weiterer Beweis also, dass alles, was ich geträumt zu haben glaube, tatsächlich geschehen ist.
Das Zittern und Rumpeln endet genauso plötzlich wie es begonnen hat. Wieder ertönt ein kurzer Ruf. Diesmal von unten. Dann bleibt es einen Moment lang still.
Ich blicke mich im Zimmer um, dessen Fenster hinter schweren, dunkelgrünen Vorhängen verborgen sind. Durch einen Spalt dringt jedoch genügend Tageslicht ein, dass ich die Einrichtung betrachten kann. Vor dem Fenster stehen ein Stuhl und ein Sekretär. An der Wand gegenüber dem Bett befinden sich ein schmaler doppeltüriger Kleiderschrank und eine Kommode mit Waschgeschirr und einem Spiegel dahinter. Alle Möbel haben geschwungene Beine, wodurch sie zwar altmodisch wirken, aber auch eine gewisse Eleganz ausstrahlen. Bestimmt würden sie sich gut in Alex‘ Laden machen.
Ich steige aus dem Bett und gehe zum Fenster. Dabei bemerke ich ein wenig beschämt, dass ich mich tatsächlich vollständig bekleidet ins Bett gelegt habe. Noch immer trage ich meine Jeans und dazu mein weißes Top, das natürlich vollkommen zerknittert ist. Was für ein Segen, dass ich gestern das schwarze Reservetop in meine Handtasche gepackt habe!
Als ich die Vorhänge zur Seite schiebe und das doppelte Sprossenfenster öffne, dringt fernes Vogelgezwitscher in den Raum. Der Geruch von verbranntem Holz und muffigem Brackwasser liegt in der Luft. Eine Gruppe Tauben fliegt über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser hinweg, aus deren Schornsteinen Rauch aufsteigt, obwohl die sommerliche Morgenluft einen warmen Tag verspricht.
Zu meiner Erleichterung erkenne ich die Giebel der Häuser wieder. Sie säumen das Nikolaifleet, das sich zwei Etagen unter mir befindet und in dem derzeit lediglich einige hölzerne Boote verlassen im seichten Schlick liegen. Das Fleet führt gerade nur ganz wenig Wasser, da es, so wie auch noch einige andere Fleete in Hafennähe, der Tide unterliegt und bei Niedrigwasser der Elbe leerläuft. Was mich allerdings etwas verwundert ist, dass ich anstelle des erwarteten Hochwasserwehrs zu meiner Rechten eine Brücke entdecke, über die in diesem Augenblick eine Kutsche rumpelt.
Hmmm. Ich wende mich vom Fenster ab und bemerke erst jetzt, dass aus dem Krug des Waschgeschirrs Wasserdampf aufsteigt, der einen Teil des Spiegels an der Wand beschlagen lässt. Außerdem entdecke ich ein sauberes weißes Leinentuch und ein neues Stück Seife auf der Kommode. Offensichtlich ist vor kurzem jemand hier gewesen und hat die Sachen dort abgestellt, während ich noch schlief. Und noch offensichtlicher erwartet diese Person, dass ich die bereitgestellten Utensilien benutze - was nur den einen Schluss zulässt, dass es in diesem Haus wohl auch kein Badezimmer gibt?
Die ganze Geschichte wird immer verrückter. Wenn ich nicht wüsste, dass es so etwas nicht gibt, würde ich glauben, man habe mich in der Zeit zurückversetzt. Aber Zeitreisen gibt es nur im Kino. Wohin bin ich also hier geraten? In ein groß angelegtes soziologisches Experiment?
Wenn dem so ist, muss ich dringend den Versuchsleiter sprechen, denn ich habe zu keinem Zeitpunkt eine Einverständniserklärung zur Teilnahme an irgendeiner Studie unterschrieben, da bin ich mir ganz sicher. Von meinem Psychologiestudium weiß ich aber noch, dass man die Probanden niemals ohne ein vorheriges Aufklärungsgespräch in einen Versuchsaufbau schicken darf. In meinem Fall scheint da etwas gründlich schief gelaufen zu sein.
Ein Blick in den zur Hälfte beschlagenen Spiegel belehrt mich jedoch, dass es zunächst erst einmal dringender ist, mein Äußeres wieder in Schuss zu bringen: Zu meiner grenzenlosen Erleichterung, habe ich zwar keinen einzigen Kratzer im Gesicht davongetragen – was höchst erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass ich gestern Abend durch eine Spiegelscheibe gefallen bin – aber abgesehen davon, bin ich doch reichlich lädiert: Mein Make-up ist zerlaufen und meine Haare stehen wild in alle Richtungen ab. Ich sehe aus wie die Hauptdarstellerin in einem Zombie-Film.
Wie gut, dass ich in meiner Handtasche immer alles dabeihabe. Unverzüglich mache ich mich daran, mein Erscheinungsbild mit Hilfe des Waschgeschirrs und dem Inhalt meiner Tasche wieder in Ordnung zu bringen. Die ganze Prozedur ist zwar etwas umständlich und gewöhnungsbedürftig, erfüllt am Ende aber seinen Zweck: ich fühle mich wieder frisch und vorzeigbar. Zum Schluss streife ich das frische schwarze Top über und bändige meine Haare zu einem Pferdeschwanz, der jetzt knapp unterhalb der Beule sitzt.
Noch während ich dabei bin, meine Habseligkeiten wieder in der Handtasche zu verstauen und meine Sneakers anzuziehen, geht das Gerumpel wieder los, das mich vorhin aufgeweckt hat. Erneut zittert das ganze Haus, als würde es von einem Erdbeben erschüttert.
Entschlossen der Sache diesmal auf den Grund zu gehen, öffne ich die Tür einen Spalt breit und spähe hinaus in den Flur, der zu meiner Erleichterung leer ist. Ich verlasse das Zimmer, folge dem Gang bis zur Treppe, die ich gestern Abend im Kerzenschein hinaufgestiegen bin, und gehe sie nun hinunter. Als ich unten angekommen bin und auf die Galerie trete, wird mir schlagartig einiges klar:
Die Halle, die ich gestern mit Eduard Sieveking im Dunkeln durchquert habe, ist zwei Stockwerke hoch. Darüber spannt sich eine grau getünchte Holzdecke, die mit Pflanzenornamenten bemalt ist, welche mir auf Anhieb noch von meinem gestrigen Besuch bei Alex vertraut sind. Es handelt sich ganz offensichtlich um dieselbe Holzdecke und dieselbe Eingangshalle wie in Alex‘ Haus. An der Stelle allerdings, in der sich meines Wissens nach gestern noch der Messingleuchter befunden hat, der die Treppe und die umlaufende Galerie beleuchtete, klafft nun ein etwa drei mal drei Meter großes, quadratisches Loch in der Decke, aus dem zwei dicke Seile herabhängen.
Ich hocke mich hinter die Brüstung der Galerie und versuche von dort aus zu erspähen, wohin die beiden Seile wohl führen. Soweit ich erkennen kann, erstrecken sich über dem zweiten Stock, in dem ich mich befinde, noch drei weitere Etagen bis hinauf unter das Dach.
Dort oben befinden sich offensichtlich Speicher und Lagerräume, denn an einer Luke zwei Stockwerke über mir steht gerade ein Mann und wuchtet einen prall gefüllten Jutesack in die Öffnung. Er befestigt den Sack an einem Haken, der an einem der dicken Seile hängt, schickt einen kurzen Ruf nach unten und lässt den Sack los, der daraufhin unter ohrenbetäubendem Gerumpel an mir vorbei in die Tiefe bis zum Grund der Diele gleitet, wo er von einem anderen Arbeiter in Empfang genommen wird. Dabei übertragen sich die Bewegungen des Flaschenzuges auf das Gebälk des Hauses und bringen das gesamte Gebäude zum Zittern und Beben. Das also war die vermeintliche U-Bahn – ein Lastenaufzug, der an der höchsten Stelle des Gebäudes im Dachfirst verankert ist und wahrscheinlich von sämtlichen Speicherräumen aus bedient werden kann.
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