1 ...8 9 10 12 13 14 ...33 „Schreib ihm doch, dass Lena sich so schlapp fühlt wegen ihres verkorksten Magens, dass sie heute bei uns übernachtet“, ergänzt Alex, keuchend vor Anstrengung. Er steht an der winzigen Spüle und müht sich damit ab, die völlig verkrustete Auflaufform wieder sauber zu bekommen.
„Gute Idee. Auf diese Weise gewinnen wir erst mal etwas Zeit, bevor Johannes anfängt, Fragen zu stellen“, nickt Gregor und tippt. Er lehnt in der Tür zum Büro, von wo aus er sowohl mit Alex zusammen sein, als auch gleichzeitig den Antiquitätenladen überblicken kann.
„Wir bleiben auf jeden Fall heute Nacht hier, für den Fall, dass Lena genauso plötzlich wieder auftaucht, wie sie verschwunden ist“, schlägt Alex vor.
Gregor nickt und schickt die Nachricht ab. Dann stößt er einen hilflosen Seufzer aus und nimmt Alex die Spülbürste aus der Hand: „Lass mich mal weiterschrubben. Ich muss jetzt irgendetwas zu tun haben, sonst drehe ich durch.“
Samstag, 20. August 2016
Es ist weit nach Mitternacht. Schon lange haben sie das Licht gelöscht, aber Gregor und Alex können nicht schlafen. Viel zu sehr treiben sie die Fragen um, was wohl mit Lena geschehen sein mag, wo sie wohl ist, ob es ihr gut geht. Sie liegen nebeneinander auf dem Fußboden des Antiquitätengeschäfts, wo sie Bettzeug und einen Campingschlafsack zwischen den alten Möbeln unmittelbar vor dem zerschlagenen Sprechenden Spiegel ausgebreitet haben. Beinahe im Minutentakt wälzen sie sich von einer Seite auf die andere, in dem vergeblichen Versuch ein wenig Nachtruhe zu finden.
Der leere Spiegelrahmen scheint dabei höhnisch auf sie herabzublicken. Seine Umrisse malen sich trotz der nächtlichen Dunkelheit schwarz vor der Wand dahinter ab und kommen Alex dadurch seltsam bedrohlich vor, wie ein riesiges, finsteres Maul, das seine Opfer zu verschlingen droht. Mit Haut und Haar zu verspeisen, so wie die junge Frau, die ihm heute offensichtlich zum Opfer gefallen ist.
Ausgerechnet Lena, ausgerechnet Gregors Schwester! Bei dem Gedanken, dass sie dabei vielleicht ums Leben gekommen sein könnte, macht Alex unwillkürlich eine abwehrende Handbewegung und ein unwilliger Laut entfährt ihm. Auf keinen Fall will er an das Schlimmste denken. Diesen Gedanken wird er sich einfach nicht gestatten.
„Was ist?“, lässt sich da Gregors Stimme in der Dunkelheit vernehmen. Natürlich ist auch er hellwach, und natürlich hat er Alex‘ Bewegung und den Laut, den er von sich gegeben hat mitbekommen.
„Ach nichts“, schwindelt er schnell, will er den ohnehin aufgewühlten Freund doch auf keinen Fall noch mehr beunruhigen. „Ich habe mir nur gerade selbst noch einmal versichert, dass es Lena ganz bestimmt gut geht, egal was auch immer mit ihr geschehen sein mag.“
„Was macht dich da so sicher?“, erkundigt sich Gregor, und dem nervösen Klang seiner Stimme kann Alex anhören, dass er darüber keineswegs so optimistisch denkt.
‚Gar nichts‘, beantwortet Alex seine Frage ehrlich im Stillen. Laut aber meint er in einem Ton, von dem er hofft, dass er beruhigend klingt: „Weil sich der Spruch auf dem Spiegelrahmen wie eine Einladung anhört, nicht wie eine Drohung oder Warnung.“
Gregor gibt eine Art zustimmendes Brummen von sich, das aber in ihrer beider Ohren recht kläglich und wenig überzeugt nachhallt.
„Bestimmt taucht Lena bald wieder auf und ist putzmunter, du wirst schon sehen“, setzt Alex eifrig nach. „Sie wird wissen, was passiert ist und uns bestimmt eine ganz simple, vollkommen logische Erklärung liefern, auf die wir zwei bloß einfach nicht gekommen sind. Bestimmt werden wir uns an den Kopf packen, weil die Lösung vor unserer Nase lag!“
„Ja, sicher“, stimmt Gregor zu, ganz offensichtlich nicht im Mindesten seiner Meinung, aber zu kraftlos vor Verzweiflung, um argumentativ dagegen zu halten.
Alex presst frustriert die Lippen zusammen, fällt es ihm doch von Stunde zu Stunde schwerer, dem Freund gegenüber den Zuversichtlichen zu mimen. Auch er wird zunehmend verzagter, je weiter die Nacht voranschreitet, ohne dass irgendetwas geschieht, das auf Lenas Verbleib hindeuten würde. „Mal angenommen, man könnte tatsächlich mit dem Spiegel durch die Zeit reisen“, versucht er nun eine neue Taktik. „Welche Epoche würdest du dir aussuchen?“ Seine Frage stellt den kläglichen Versuch dar, nicht nur Gregor, sondern ebenso sehr sich selbst von den zunehmend apokalyptischer werdenden Vorstellungen darüber abzulenken, was Lena wohl alles passiert sein könnte.
Zu seiner Erleichterung geht Gregor auf den Ablenkungsversuch ein. „Ich weiß nicht“, beginnt er zögernd. „In die Zukunft vielleicht? Um zu sehen, was kommen wird?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen möchte“, meint Alex. „Überleg mal: du könntest auf diese Weise etwas Schlimmes über dein zukünftiges Schicksal oder das eines guten Freundes erfahren. Danach müsstest du mit diesem Wissen leben und würdest immer darauf warten, dass es eintrifft. Das wäre doch schrecklich… Nein, ich denke, ich würde mir lieber die Vergangenheit anschauen.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, stimmt Gregor zu. „Dann vielleicht lieber die Ritterzeit? Oder das alte Rom?“
„Nach Versailles an den Hof Ludwig XIV“, schlägt Alex vor. „Oder zu den alten Ägyptern. Stell dir vor: man könnte endlich das Rätsel lösen, wie sie die Pyramiden gebaut haben. Das wäre doch eine Sensation. Du könntest deine Kamera mitnehmen und Fotos davon machen.“
„Hmm“, brummt Gregor zustimmend. „Aber was ist, wenn man sich nicht aussuchen kann, in welche Zeit man reist? Dann könnte es einem passieren, dass man auf einem Schlachtfeld landet, mitten im übelsten Kampfgetümmel. Oder als Hexe auf einem mittelalterlichen Scheiterhaufen. Vielleicht auch an Bord der Titanic. Oder in einem Foltergefängnis der Gestapo…“
Gregors Stimmung ist offensichtlich alles andere als zuversichtlich. Alex wertet seinen Ablenkungsversuch als kolossal gescheitert. Zumal ihm bei Gregors Aufzählung noch selbst allerhand denkbare Szenarien einfallen. Nur mit Mühe gelingt es ihm, die Bilder zu verdrängen, die Lena auf der Flucht vor einem Mammut zeigen und in der Gewalt eines lüsternen Neandertalers. Ein solches Schicksal würde er seinem ärgsten Feind nicht gönnen und Gregors Schwester schon mal gar nicht. Alex tastet seufzend nach der Taschenlampe und schaltet sie an.
„Was hast du vor?“, blinzelt Gregor ihn an.
„Ich hole mein Notebook aus dem Büro. Da wir ohnehin keinen Schlaf finden, können wir die Zeit auch mit ein wenig Internetrecherche verbringen“, erklärt er und schält sich aus dem Schlafsack.
„Und was willst du recherchieren? Eine Hitliste der grausamsten Tode in der Geschichte?“, erkundigt sich Gregor und sieht dabei derart finster drein, dass Alex wider Willen lachen muss.
„Nein, keine Angst. Ich dachte eher, wir könnten etwas mehr über diesen Spiegel herausfinden. Schließlich scheint der doch bei Lenas Verschwinden irgendeine Rolle zu spielen. Die Frage ist nur, welche genau?“
*
Das Bett ist wunderbar weich. Ich liege in fluffigen Federkissen wie auf einer Wolke und rekapituliere den Traum, den ich heute Nacht hatte: Darin geleitete mich ein freundlicher Mann durch ein stockfinsteres Haus. Lediglich ein Leuchter mit mehreren Kerzen wies uns dabei den Weg.
Zunächst ging es einmal quer durch einen hallenartigen Raum, der so hoch war, dass er keine Decke zu haben schien. Dann erreichten wir eine Treppe, welche uns auf eine Galerie führte, die rund um die Eingangshalle lief. Mehrere Türen gingen von der Galerie ab, die wir aber alle hinter uns ließen. Stattdessen gelangten wir durch eine Art Vorraum zu einer weiteren Treppe, die ins nächste Stockwerk führte. Auch hier befanden sich wieder mehrere Türen.
Vor einer davon blieb der nette Mann stehen, öffnete sie, reichte mir freundlich eine der Kerzen von seinem Leuchter und wünschte mir eine gesegnete Nachtruhe.
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