Ich recke ein wenig den Hals, um über die Brüstung der Galerie spähen zu können. Dort unten stapeln sich weitere Säcke, hölzerne Kisten und Fässer unterschiedlicher Größe. Von hier oben sieht es wie ein heilloses Durcheinander aus.
Die Männer, die dort unten arbeiten, scheinen jedoch zu wissen, was sie zu tun haben. Mit sicheren Bewegungen greifen sie sich nach und nach die unterschiedlichen Behältnisse, die von oben durch das quadratische Loch hinabgelassen werden und schaffen sie durch die große Tür nach draußen. Dazwischen laufen andere Männer mit Lieferpapieren umher, die Behältnisse abzählen, auf Listen abhaken und zwischendurch geschäftig hinter der Tür verschwinden von der ich weiß, dass sich dahinter die Kontorräume befinden, wo ich gestern Abend die Sieveking-Brüder getroffen habe – beziehungsweise Alex‘ Laden, je nachdem, in welcher Realität ich mich derzeit gerade befinde.
Just in diesem Moment öffnet sich die Kontorstür und der grimmige Henry tritt in Begleitung eines anderen Mannes in die Diele. Obwohl er mich unmöglich hier oben entdecken kann, weiche ich unwillkürlich ein Stück zurück und ducke mich tiefer in den Schatten des Geländers, das mir zum Glück genügend Deckung gibt, da es aus einer Aneinanderreihung von grau gestrichenen, geschwungenen Holzelementen besteht, von denen jedes etwa eine Hand breit ist. Aus einem Grund, den ich mir selber nicht erklären kann, wäre es mir unangenehm, wenn ausgerechnet er mich dabei ertappen würde, wie ich auf der Galerie hocke und ihn durch die fingerbreiten Abstände zwischen den Holzelementen beobachte.
Obwohl meine Sicht jetzt etwas eingeschränkt ist, kann ich ihn und seinen Begleiter noch gut sehen. Wieder einmal bin ich verwundert darüber, wie festlich die Männer gekleidet sind. Um ihre Hälse haben sie jeweils ein Tuch geschlungen, dessen Enden in ihren kragenlosen Hemden verschwinden, und über dem Ganzen tragen sie frackartig geschnittene Gehröcke, die ihnen bis weit unter die Knie reichten Zur Krönung seines Outfits setzt Henry Sievekings Besucher jetzt auch noch einen Zylinderhut auf, nachdem er sich per Handschlag verabschiedet hat und das Haus verlässt. Ganz schön overdressed für meinen Geschmack. Aber offenbar kein allzu ungewöhnlicher Anblick.
Die Arbeiter jedenfalls haben dem Zylindermann keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Gegensatz zu diesem sehen sie recht normal aus. Sie tragen dunkle Stoffhosen über einfachen Hemden. Dazu haben sie ebenfalls meist ein Halstuch umgebunden und tragen Schiebermützen auf dem Kopf. Wären ihre Kleidungsstücke in den Farben etwas einheitlicher, dann könnten sie durchaus als Mitglieder eines Shanty-Chors durchgehen.
Henry Sieveking wendet sich an zwei der Arbeiter, die gerade von draußen hereinkommen und gibt ihnen Anweisungen in fließendem Plattdeutsch.
Erstaunt hebe ich die Brauen. Ich kenne kaum jemanden, der den alten Dialekt noch richtig gut beherrscht. Selbst Gregor und ich, die wir echte Hamburger sind, können Platt zwar noch verstehen, aber kaum irgendeinen zusammenhängenden Satz bilden.
Die Arbeiter hingegen antworten Sieveking in derselben Sprache, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.
Ich lausche ihrem Gespräch über irgendwelche Fässer, die von A nach B geschafft werden müssen und gewinne den Eindruck, dass es Sieveking genießt, die Sprache zu benutzen. Seine Stimme klingt jedenfalls entspannter und weniger streng als gestern Abend, als wir Hochdeutsch miteinander sprachen. Obwohl – vielleicht war er da einfach deshalb unentspannt, weil er urplötzlich eine wildfremde Frau von seinem Fußboden aufheben und dann auch noch beherbergen musste. Wer weiß?
Inzwischen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass ich nicht ewig hier hocken und die Gastfreundschaft der Sieveking-Brüder in Anspruch nehmen kann. Wenn ich zudem herausfinden möchte, ob ich tatsächlich irrtümlich Teil eines großangelegten Experiments geworden bin, dann muss ich dieses Haus verlassen und schauen, ob ich irgendwo einen Verantwortlichen finde, um das Missverständnis aufzuklären. Kurz kommt mir die Idee, ob die Sievekings vielleicht mit zum Forschungsteam gehören und dort in leitender Funktion tätig sein könnten, verwerfe den Gedanken aber schnell wieder. Die beiden gehen viel zu sehr in ihren Rollen als Hamburger Kaufleute auf. Kein Wissenschaftler der Welt kann derart glaubwürdig schauspielern. Die beiden müssen echte Profis sein.
Also schultere ich meine Handtasche und schleiche in Richtung Treppe, wobei ich darauf achte, im Schatten der Galerie zu bleiben und möglichst niemandem aufzufallen. Auf keinen Fall möchte ich nochmals mit Henry Sieveking reden müssen. Würde der freundliche Eduard gerade unten in der Diele stehen, würde ich mich anständig bei ihm bedanken und mich verabschieden. Aber von den bohrenden Blicken des grimmigen Henry habe ich gestern Abend schon genug genossen.
Stück für Stück arbeite ich mich ins Erdgeschoss hinunter, ohne dass mich jemand sieht oder anspricht. Dabei kommt mir zugute, dass die Männer ohnehin viel zu beschäftigt mit ihrer Arbeit sind, um darauf zu achten, was auf der Galerie vor sich geht.
Herr Sieveking ist inzwischen wieder im Kontor verschwunden. Gut.
Im Erdgeschoss angekommen, verberge ich mich hinter ein paar aufgestapelten Säcken, denen äußerst intensiv, ja nahezu betäubend, der Weihnachtsgeruch entströmt, den ich gestern Abend schon hier im Haus wahrgenommen habe. Nelken, schießt es mir durch den Kopf. Es ist der Duft getrockneter Nelken. Ganz eindeutig. Fast bin ich versucht mir vor die Stirn zu schlagen, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Oben auf den Säcken, hinter denen ich hocke, entdecke ich eine Jacke und eine Schiebermütze, die einer der Arbeiter dort abgelegt hat. Ohne lange darüber nachzudenken, schnappe ich mir ungesehen die beiden Kleidungsstücke.
Eng an die Säcke gepresst, schlüpfe ich in die Jacke aus braunem, grobem Leinen. Sie ist mir ein wenig zu eng und stinkt übel nach altem Schweiß. Unwillkürlich verziehe ich angewidert das Gesicht und denke innerlich aufseufzend, dass ich mir das frische Top getrost hätte sparen können. Auch die Mütze ist schon reichlich speckig, und wenn ich eine Laus oder ein Floh wäre, würde ich mich bestimmt darin wohl fühlen. Hastig schiebe ich den Gedanken beiseite und konzentriere mich darauf festzustellen, dass sie gut auf meinem Kopf sitzt und zudem sogar noch Platz bietet, um meinen Pferdeschwanz darunter zu verbergen. Also Augen zu und durch.
Bestimmt sehe ich jetzt schon fast wie einer der Arbeiter aus. Bloß meine Jeans und die blauen Sneakers sind noch nicht wirklich stilecht. Aber ein paar herrenlose Schuhe stehen hier leider nirgendwo in der Ecke herum. Das wäre ja auch zu schön gewesen.
Vorsichtig kauere ich mich hinter die Säcke und beobachte die Bewegungen der Arbeiter, um eine günstige Gelegenheit zu finden, wie ich ohne großes Aufsehen zu erregen, durch das große offene Eingangstor gelangen könnte. Etwa fünf Minuten lang hocke ich da und beginne mich langsam zu fragen, was ich machen soll, wenn die Arbeiter beginnen, den Stapel Säcke abzutragen, der mir als Deckung dient.
Zu allem Überfluss betritt Henry Sieveking auch noch wieder die Szenerie. Er trägt eine Liste in der Hand und beginnt im hinteren Teil der Diele ein plattdeutsches Palaver mit einem Mann, der sich die meiste Zeit über unten am Lastenaufzug aufhält und hin und wieder Bestellungen nach oben zu den Lagerräumen ruft. Ich vermute, er ist so eine Art Vorarbeiter. Zum Glück drehen sie mir den Rücken zu, als sie sich gemeinsam über die Liste beugen.
Dann plötzlich ist meine Chance gekommen. Beinahe hätte ich sie verpasst: Vier Arbeiter gleichzeitig sammeln sich um eine besonders große Kiste, die zudem auch noch überdurchschnittlich schwer zu sein scheint. Sie geraten jedenfalls ganz schön ins Keuchen, als sie das Gewicht auf ein Kommando hin gleichzeitig anheben und zur großen Tür tragen. Ein jeder von ihnen ist in diesem Moment viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und darauf bedacht, den Weg nach draußen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, als dass sie noch groß auf ihre Umgebung achten würden.
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