Marit Schalk
Außerhalb der Zeit
Über raue Pfade
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Inhaltsverzeichnis
Titel Marit Schalk Außerhalb der Zeit Über raue Pfade Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Danksagung
Impressum neobooks
Freitag, 19. August 2016
„Bist du fertig? Bin in fünf Minuten da“, lese ich in der Nachricht meines Bruders.
„Fünf Minuten? Das heißt, du hast schon einen Parkplatz gefunden?!“, antworte ich, während ich den letzten Rest meines Schinkenbrots vertilge.
„Na gut. Also in zwanzig Minuten“, kommt es zurück.
Ich gönne mir noch ein zweites Butterbrot, bevor ich zum Wohnzimmer hinübergehe. „Gregor ist jeden Moment da. Wie sieht’s aus? Kommst du mit?“, frage ich die Rückenlehne unseres Sofas. Dahinter befindet sich mein Freund Johannes. Seine Füße liegen gekreuzt auf dem Wohnzimmertisch und zeichnen sich als schwarze Silhouette vor dem Bild des Fernsehers ab, auf dem gerade irgendein Fußballspiel läuft.
„Gleich wird die Zusammenfassung des St.-Pauli-Spiels übertragen, und ich muss mich ja auch noch für den Bandauftritt heute Abend fertig machen“, ertönt es als Antwort auf meine Frage. Seine Stimme klingt leicht schleppend und gleichzeitig gereizt. So hört er sich an, wenn er verkatert oder müde ist. In diesem Fall tippe ich auf Letzteres, denn gestern ist er erst spät in der Nacht von der Arbeit zurückgekommen.
Johannes ist Gitarrist im Orchester einer der zahlreichen Musicalproduktionen bei uns in der Stadt. Gestern Abend hat er gespielt, und für heute Nachmittag waren zudem noch stundenlange Proben angesetzt. Kein Wunder also, dass er müde ist und lieber vor dem Fernseher abhängt, bevor er später zum Auftritt seiner Band „Heavy Eagles“ in einer Altonaer Kneipe gehen wird. Da wir schon seit drei Jahren zusammen sind, weiß ich, dass er abgekämpft ist und nehme entsprechend Rücksicht.
Trotzdem bin ich enttäuscht. In letzter Zeit ist Johannes für gar nichts mehr zu motivieren, es sei denn, es hat unmittelbar mit ihm selbst zu tun. Wenn ich nicht meinen Bruder oder meine Freundinnen hätte, mit denen ich etwas unternehmen kann, würde ich zu Hause glatt versauern.
„Schon okay. Dann ziehe ich eben erst mal ohne dich mit Gregor los, um seine neueste Eroberung unter die Lupe zu nehmen“, antworte ich und versuche, mir meinen Verdruss nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
„Dieser Andy ist bestimmt nett, und ich sehe ihn doch heute Abend noch nach dem Auftritt“, brummt es hinter der Sofalehne. Tröstend? Versöhnlich? Entschuldigend? Keine Ahnung, ich kann seinen Tonfall in diesem Moment nicht deuten.
„Alex. Der Typ heißt Alex“, verbessere ich und höre selbst, dass ich nun doch leicht gereizt klinge, beweist Johannes‘ Namensverwechslung doch, dass er mir wieder einmal nur mit halbem Ohr zugehört hat, als ich ihm vom neuen Freund meines Bruders erzählt habe. „Und ob er nett ist, gilt es ja heute Abend erst herauszufinden…“, klugscheiße ich, wohl wissend, dass er das nicht leiden kann. Soll er sich doch auch über mich ärgern, anstatt ich nur über ihn.
Das Klingeln der Türglocke verhindert seine Erwiderung und dass wir infolge dessen in einen Streit geraten.
„Das wird Gregor sein“, bemerke ich und gehe zum Türöffner, um meinen Bruder ins Haus zu lassen. Wenige Augenblicke später erklimmt er leichtfüßig die Treppenstufen zu uns in den zweiten Stock, wo ich in der Wohnungstür auf ihn warte. Die Freude ihn zu sehen, vertreibt augenblicklich meinen Ärger über Johannes. In Gregors Gegenwart bin ich eigentlich selten schlecht gelaunt.
Wir sind Zwillinge, und das sieht man auch. Obwohl Gregor mich mit seinen fast Einsachtzig um mehrere Zentimeter überragt, werde auch ich von meinen Mitmenschen als groß wahrgenommen. Groß und dürr, denn zu meinem Leidwesen sind die weiblichen Attribute meines Körpers nicht allzu übertrieben ausgebildet - um nicht zu sagen kümmerlich unterentwickelt. Genau wie mein Bruder habe ich rötlichblondes Haar, blaue Augen, einen vollen Mund und eine kleine, mit feinen Sommersprossen gesprenkelte Nase. Letztere treten zum Glück meistens nur im Hochsommer wirklich deutlich auf meiner blassen, zu Sonnenbrand neigenden Haut hervor.
Im Gegensatz zu ihm trage ich allerdings keinen Vollbart, um damit männlicher und attraktiver auszusehen und würde es wahrscheinlich auch nicht machen, wenn ich ein Mann wäre, denn mir persönlich gefällt mein Bruder besser glattrasiert. Aber die Tatsache, dass er kurz nach dem Wachsen seines Vollbartes auch prompt den Mann seiner Träume getroffen zu haben scheint, bestätigt Gregor in seiner Überzeugung, der Bart sei eine richtige Entscheidung gewesen. Dementsprechend ist es mir nicht möglich, ihm das rote Gestrüpp am Kinn wieder auszureden.
Gregor erreicht den obersten Treppenabsatz und streicht sich eine leicht verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Die derzeitige schwüle Augusthitze legt sein ohnehin schon krauses, kurzes Haar noch zusätzlich in leichte Wellen. Auf meinem eigenen Kopf sieht es bei dieser Witterung nicht viel anders aus. Aber da ich mein Haar zu einem Pferdeschwanz gebändigt habe, fällt es bei mir nicht so auf.
„Hey!“, strahlt er mich an und hebt erwartungsvoll die Augenbrauen. „Bist du fertig?“
„Fast. Bloß noch die Schuhe“, antworte ich und lasse ihn in die Wohnung.
„Hallo Johannes!“, ruft er durch die geöffnete Wohnzimmertür.
„Hey!“, tönt es von dort zurück. „Trinkst du noch schnell ein Bier mit?“ Offenbar hätte Johannes gegen ein wenig Gesellschaft beim Fußballgucken nichts einzuwenden.
Aber heute wird er mit seiner Einladung kein Glück haben. Obwohl er für gewöhnlich Fußball mag, hat Gregor gerade andere Prioritäten. Er brennt sichtlich darauf, endlich loszuziehen und Alex zu treffen.
Ich erkenne es daran, wie er auf seinen Füßen fast unmerklich vor- und zurückwippt, während er mir dabei zusieht, wie ich in meine Schuhe schlüpfe und abschließend den Inhalt meiner Handtasche überprüfe.
„Nein, danke. Lieber später nach eurem Auftritt, ja?“, gibt er dann auch gleich darauf zur Antwort, und an mich gerichtet, fragt er mit hochgezogenen Brauen: „Was, um alles in der Welt, machst du da?“
„Ich stopfe meine Jeansjacke in meine Handtasche für den Fall, dass es später kühler wird“, erkläre ich das Offensichtliche.
„Handtasche nennst du dieses Monstrum?“, grinst er nachsichtig. „Warum nimmst du nicht gleich einen Rollkoffer mit? Ich frage mich wirklich, warum du immer diesen ganzen Kram mit dir rumschleppen musst…?“
„Nun, zum Beispiel, um gewissen Leuten in meiner Begleitung mit diversen Kleinigkeiten auszuhelfen. Als da wären: Papiertaschentücher, Heftpflaster, ein Regenschirm, Zahnkaugummi, Kopfschmerztabletten, Kondome…“, beginne ich lauter Dinge aus meinem Handtaschenbestand aufzuzählen, von denen nahezu ausschließlich Gregor im Laufe der letzten Monate profitiert hat, wenn wir miteinander losgezogen sind.
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