Darauf war Eduard durchaus ein wenig stolz, denn es war seiner gründlichen Vorarbeit der vergangenen Tage zu schulden, dass sie die frische Ware bereits im Vorfeld hatten an den Mann bringen können, noch bevor das Schiff überhaupt den Hafen erreicht hatte.
Henry war beeindruckt gewesen und hatte ihm zwischendurch anerkennend auf die Schulter geklopft, eine Geste, die Eduard sehr viel bedeutete, wie er sich selber eingestand, denn obwohl er bereits 32 Jahre alt war, der vielköpfigen Familie vorstand und ihre gemeinsame Firma während Henrys Abwesenheit erfolgreich alleine geleitet hatte – was die Bücher, die sie bis gerade eben durchgegangen waren, eindrucksvoll belegten – so fühlte er sich dem nur knapp zwölf Monate Älteren gegenüber doch stets als das, was er unabänderlich war: der kleine Bruder. Henrys Meinung war ihm schon immer wichtig gewesen, und das würde wahrscheinlich auch so bleiben, bis sie als Greise eines schönen Tages beieinandersäßen und das Handelshaus Sieveking in die Hände der nächsten Generation übergeben würden.
So sinnierte Eduard, während er seine Augen über den mächtigen Schreibtisch hinweg durch das von der Lampe nur noch schwach erhellte Kontor schweifen ließ.
Er hätte sich in dem Raum mit den deckenhohen Wandregalen blind zurechtfinden können. Hier stand noch alles genauso an seinem Platz wie schon zu Zeiten ihres Vaters. Sein Blick blieb an Henry hängen, der scheinbar entspannt an seiner Pfeife zog.
So wie er dasaß, ohne Rock und Halsbinde, das Hemd gelockert und die Beine lässig übereinandergeschlagen, sah er für den Augenblick jung und unbeschwert aus, fast so wie früher. Leider ein Trugbild, wie Eduard nur zu genau wusste. Das Leichte und Jungenhafte, das Henry früher charakterisiert und das Eduard immer besonders an ihm geliebt hatte, war dem älteren Bruder vor Jahren mit einem Schlag abhandengekommen. Und mit der Ankunft in Hamburg und ganz besonders hier im Haus war der Gram, den Henry in den vergangenen Jahren in der Fremde zu vergessen gesucht hatte wieder zurückgekehrt. Spätestens als er die große Diele betreten hatte, hatten sich die Schatten der Vergangenheit erneut auf ihn gestürzt wie eine Meute ausgehungerter Wölfe.
Eduard hatte es fast körperlich gespürt, so als geschehe es ihm selbst. Er hatte Henry ansehen können, wie sehr dieser sich hatte zwingen müssen, über die Schwelle der Diele zu treten, und wie er sich dann hatte beherrschen müssen, nicht zu der Stelle hinzusehen, dorthin, wo …
Eduard fühlte, wie er bei dem Gedanken an das, was damals geschehen war, erneut erschauerte, wie er sich des schrecklichen Bildes, das sich in sein Gehirn eingebrannt hatte und das sich nun unerbittlich wieder vor sein inneres Auge zu schieben drohte, nur mit größter Anstrengung erwehrte. Wenn es selbst ihm so erging, der seit mehr als fünf Jahren tagtäglich dort arbeitete und dem die Diele dadurch wieder ein Stück Normalität geworden war - wie furchtbar musste es dann erst für Henry sein, der vor eben jenem Ort geflohen war?
Geflohen, ja das war er. Er hatte alles irgendwann einfach nicht ertragen können, hatte schließlich kurzerhand das nächstbeste ihrer Schiffe genommen und war nach Sansibar abgereist, um sich dort um ihre Dependance zu kümmern, obwohl es turnusgemäß an Eduard gewesen wäre, die dortigen Geschäfte zwölf Monate lang zu führen.
Und aus dem einen Jahr waren schließlich fünf geworden. Vorgeblich, weil die Geschäfte es erforderten und insbesondere die neu gegründete Faktorei in Lagos ihn unabkömmlich machte. In Wahrheit aber, weil Henry sich nicht zurückzukehren getraut hatte. Nach zwei Jahren nicht. Nicht nach drei. Und auch nicht nach vier.
Eduard konnte die Beweggründe des Bruders nachvollziehen, auch wenn er die negativen familiären Konsequenzen, die aus seiner Abwesenheit erwuchsen, fast jeden Tag vor Augen hatte und diese nicht gutheißen konnte. Aber dies stand auf einem anderen Blatt - und nun war Henry ja da, um sich darum zu kümmern. Letzteres stand jedenfalls dringend zu hoffen.
Freitag, 19. August 2016
Wenn es eines gibt, was man uns in Hamburg ganz bestimmt nicht vorwerfen kann, dann ist es, dass wir übertrieben sentimental mit unserer historischen Bausubstanz umgehen würden. Ganz im Gegenteil, ist in meiner Heimatstadt schon immer gnadenlos alles abgerissen worden, was der Weiterentwicklung des Hafens oder der Geschäfte der großen Handelshäuser und Reedereien im Wege stand. Allem, was dann noch übriggeblieben ist, hat der Bombenhagel des 2. Weltkriegs den Rest gegeben.
Daher kommt es, dass Hamburg heute durch und durch modern ist und die ganz wenigen architektonischen Zeugnisse aus der Vergangenheit, die mehr als einhundertfünfzig Jahre auf dem Buckel haben, über das gesamte Stadtgebiet verteilt sind wie Rosinen in einem traditionellen norddeutschen Käsekuchen.
Eine dieser wenigen Rosinen ist die Deichstraße am Nikolaifleet. Für einen an historischer Architektur interessierten Besucher unserer Stadt ist diese Straße ein echter Pflichtprogrammpunkt, denn dort stehen, eingezwängt zwischen moderne Betongebäude, noch ein paar wenige, allerletzte alte Kaufmannshäuser. Hinter herausgeputzen Fassaden erstreckt sich hier jeweils ein vier- bis fünfgeschossiges Gebäude, das mit seiner Rückseite bis ans Nikolaifleet reicht. In den Obergeschossen befinden sich Mietwohnungen, und auf der Vorderseite sind die ehemaligen Kontore zu kleinen Läden, Kneipen und Restaurants umgebaut worden. Ich hoffe aber nicht, dass wir mit Alex noch in eins der Lokale gehen werden, bevor wir zu Johannes‘ Bandauftritt fahren, da die hier üblichen Preise mein Budget wahrscheinlich arg überstrapazieren werden.
Zunächst allerdings mache ich mich daran, zusammen mit meinem inzwischen zum Nervenbündel mutierten Bruder Alex‘ Laden zu finden, der sich tatsächlich in einem der wirklich richtig alten Bürgerhäuser befindet. Sehr passend für einen Antiquitätenladen.
Hinter dem riesigen weißen Sprossenfenster tummelt sich in der Auslage ein buntes Sammelsurium an altem Schnickschnack: ein Stuhl mit geschwungenen Beinen und fadenscheinigem Bezug, ein Globus, Porzellantassen, antike Lampenschirme: Mein Herz macht einen freudigen Hüpfer. Sofort verspüre ich Lust, den Laden zu betreten und darin zu stöbern, auch wenn es dort wohl kaum etwas gibt, das ich mir leisten könnte.
Nur zu gern folge ich Gregor über ein paar Stufen und durch die breite Tür ins Innere des Hauses, wohl wissend, dass mein Bruder mehr am Inhaber des darin befindlichen Ladens interessiert ist, als an dessen Ware. Aber das hält mich ja nicht davon ab, es umgekehrt zu halten.
Innen im Haus beeindruckt mich als erstes die hohe Eingangshalle mit der rundum verlaufenden, hölzernen Galerie sowie die graue Holzdecke darüber, die über und über mit verschlungenen Pflanzenornamenten bemalt ist, was rustikal und zugleich superschick aussieht. Von der Mitte der Decke hängt sogar ein verschnörkelter Messingleuchter herab und lässt mich unwillkürlich einen anerkennenden Pfiff ausstoßen. Das nenne ich doch mal einen Hauseingang!
Wir wenden uns nach links und betreten Alex‘ Laden: Wunderschöne Möbel, alte Kerzenleuchter, silbernes Besteck. Ich kann mich gar nicht sattsehen an all den vielen Kostbarkeiten, die geschickt dekoriert überall im Verkaufsraum präsentiert werden, der mit dicken, bunten Teppichen ausgelegt ist, die unsere Schritte dämpfen.
‚Also selbst wenn Alex sich als Niete herausstellen sollte, sein Geschäft ist es mit Sicherheit nicht‘, denke ich im Stillen.
Gerade habe ich in einer Ecke einen mannshohen, alten Spiegel entdeckt. Er steckt in einem aus dunklem Holz aufwändig gearbeiteten Rahmen, der auf einem passenden Gestell befestigt ist, sodass man den Spiegel wie ein Möbelstück frei im Raum aufstellen kann. Soweit ich es von hier aus erkennen kann, weist der Rahmen oben über der Spiegelfläche einen geschnitzten Aufsatz auf, in den links und rechts jeweils eine Art ovales Medaillon eingelassen ist, auf dem in geschnörkelter Schrift etwas geschrieben steht.
Читать дальше