Die beiden ungewöhnlich muskulösen Arme sind von einem leicht rauen Stoff bedeckt, den ich auf der nackten Haut an meinen Schultern spüre sowie an meiner linken Wange, die an der Brust des Mannes ruht, der mich so sicher hält, als hätte ich überhaupt kein Gewicht.
‚Wer ist dieser Mann?‘, frage ich mich unwillkürlich. Gregor kann es nicht sein. Und auch Alex hat mir vorhin keinen derart durchtrainierten Eindruck gemacht, wie ich es jetzt unter der Kleidung wahrzunehmen glaube. Ich schnuppere und atme einen überaus angenehmen Männergeruch ein. Einen natürlichen Duft, den man in keiner Parfümerie der Welt kaufen kann. Er besteht aus salziger Seeluft, einem letzten Hauch Seife, einer Prise Tabak und einem weiteren, blumig-süßlichen Aroma, das mich vage an Weihnachten erinnert.
Ich atme noch ein zweites Mal genussvoll ein, diesmal tiefer. Selbstverständlich nur, um endgültig ausschließen zu können, dass ich es hier mit Gregor oder Alex zu tun habe. Auch Johannes scheidet definitiv aus. Langsam, ganz vorsichtig, versuche ich die Augen zu öffnen, um einen Blick auf den Unbekannten zu riskieren.
„Mich dünkt, sie wacht auf“, vernehme ich eine dunkle Stimme, deren Klang hervorragend zu dem soeben registrierten Körperduft passt.
‚Wenn er jetzt auch noch so gut aussieht, wie er klingt und riecht, falle ich auf der Stelle zurück in Ohnmacht‘, schießt es mir durch den Kopf, bevor ich die Lider endgültig hebe. Ich blicke direkt in zwei leuchtend blaue Augen unter buschigen blonden Brauen, die mich prüfend mustern, wodurch sich dazwischen eine steile Falte bildet, die dem ansonsten ebenmäßigen Gesicht einen strengen Ausdruck verleiht. Eine gerade Nase, ein markantes, glattes Kinn und ein leicht geschwungener, eher schmaler Mund komplettieren das Gesicht, das auffallend braun gebrannt ist, wie bei Seglern, die mehrere Tage bei Sonne auf dem Wasser verbracht haben.
Aufgrund der Sonnenbräune treten die seitlichen blonden Koteletten des Mannes und sein kurzes, strohblondes Haar besonders deutlich hervor, in dem ich schon vereinzelte, erste graue Strähnen zu entdecken glaube. Auch die feinen Fältchen in den Augenwinkeln sowie links und rechts des Mundes lassen vermuten, dass er nicht mehr ganz so jung ist, Anfang bis Mitte dreißig, schätze ich.
In jedem Fall habe ich es aber mit einem ausgesprochen attraktiven Exemplar von Mann zu tun, das steht außer Frage.
Trotzdem widerstehe ich einer weiteren Ohnmacht und konzentriere mich darauf, seiner Identität auf die Spur zu kommen. Da sein braungebrannter Hals, den ein hervorstehender Adamsapfel ziert, in einem weißen Shirt oder kragenlosen Hemd zu stecken scheint, schließe ich daraus messerscharf, dass ich es wohl mit einem Arzt zu tun habe. Ein Mediziner, der gerne segelt, so etwas kommt häufiger vor bei uns in Hamburg. War mein Sturz also doch so schwer, dass Gregor und Alex den Notarzt rufen mussten?
„Bin ich schwer verletzt?“, erkundige ich mich mit einer von der Ohnmacht noch immer rauen Stimme und sehe mich selbst im Geiste vor mir: blutüberströmt und mit Spiegelsplittern gespickt, die unschöne Narben hinterlassen werden, welche mich für den Rest meines Lebens grausam entstellen. Und das ausgerechnet in dem entscheidenden Augenblick, in dem ich in den Armen dieses perfekten Traums von einem Mann liege! Das ist wirklich ungerecht.
„Ich denke nicht“, höre ich ihn da sagen, „bis auf eine beachtliche Beule am Hinterkopf, kann ich nichts entdecken.“ Er spricht mit dem leicht näselnden Akzent, der uns Hamburgern eigen ist.
In meine Erleichterung über den Inhalt seiner Worte, mischt sich Bedauern darüber, dass er mich damit gleichzeitig in eine aufrechte, sitzende Position bringt und seine Arme von mir löst.
Benommen taste ich meinen Hinterkopf ab und zucke zusammen, als meine Finger die Beule finden. Ein Riesending, in der Tat. „Haben Sie kein Kühlkissen oder etwas in der Art?“, frage ich nach und blicke zu ihm hoch, da er sich inzwischen aufgerichtet hat.
Er ist groß. Ich schätze, fast so groß wie Gregor. Entsprechend weit muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Er hat die Hände vor der Brust verschränkt und betrachtet mich mit einer Miene, die ich nicht zu deuten weiß, die sein Gesicht jedoch in weitere strenge Falten legt. Sein Anblick erinnert mich an einen Vogel, der eine Raupe hinsichtlich ihrer Genießbarkeit in Augenschein nimmt. Blöd nur, dass ich in diesem Fall die Raupe bin.
Unterstrichen wird seine strenge Vogelgestik noch durch die Tatsache, dass er gar keine Arztkleidung trägt, wie ich zunächst angenommen habe. Er hat über dem weißen Hemd eine beigefarbene Anzugweste an, in deren rechter Tasche eine Uhr zu stecken scheint. Jedenfalls schließe ich das daraus, dass eine lange goldene Kette von einem der unteren Knopflöcher in die Westentasche hineinführt. Passend zur Weste trägt er eine gleichfarbige Hose, welche in kniehohen Stiefeln steckt, die dem ansonsten so eleganten Outfit etwas Derbes verleihen.
„Ich wüsste nicht, inwieweit Ihnen ein Kissen Kühlung verschaffen könnte“, weist er mich zurecht, fügt aber hinzu: „indes haben wir bereits nach einem Eisbeutel verlangt. Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden würden?“ Seine eigentlich angenehme Stimme, klingt unterkühlt und streng. Seine Körperhaltung lässt keinen Zweifel offen, dass die Raupe nicht würdig ist, von ihm gefressen zu werden.
Schade eigentlich.
„Glauben Sie, Sie können aufstehen, wenn wir Ihnen unter die Arme greifen?“, lässt sich da eine weitere Stimme vernehmen. Sie ist der des strengen Vogels ähnlich, jedoch geringfügig heller und deutlich freundlicher.
Ich wende mein Gesicht der Stimme zu. Sie kommt direkt aus der Ecke, mit der ich soeben derart unangenehm Bekanntschaft gemacht habe und gehört einem weiteren Anzugträger. Er steht inmitten der Porzellanscherben und pickt sie vorsichtig Stück für Stück auf, um sie auf einem Ungetüm von Schreibtisch zwischen Bergen von dicken Kladden und Papieren zu sammeln.
Wo dieser Schreibtisch auf einmal herkommt, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Er war mit ziemlicher Sicherheit vor meiner Ohnmacht noch nicht da. Gregor, Alex und ich hätten sonst um das sperrige Ungetüm herumgehen müssen, um den Sprechenden Spiegel zu erreichen, von dem im Übrigen auch nichts mehr zu sehen ist, ebenso wenig wie von dem Tischchen, auf dem die nun zerschmetterte Schäferin gestanden hat. Merkwürdig. Was geht hier eigentlich vor?
Der Mann aus der Ecke legt die letzten Teile der Schäferin zu seiner Scherbensammlung und kommt auf mich zu. Unverkennbar ist er ein Bruder des großen Blonden, obwohl er im Ganzen schmächtiger und dunkler ist als dieser. Sein dunkelblondes, fast braunes Haar trägt er auf der Stirn zu einer großen Tolle gekämmt und seine Koteletten sind länger. Dazu trägt er passend zur Tolle einen geschwungenen Schnurrbart, was in meinen Augen ein wenig lächerlich aussieht.
Man sieht sofort, dass hier jemand versucht älter und reifer auszusehen, als er eigentlich ist und damit genau das Gegenteil erreicht. Aber davon einmal abgesehen sind seine Gesichtszüge ebenso markant und wohlgeformt wie die seines strengen Bruders. Und im Gegensatz zu diesem, lächelt er mich sogar freundlich an, während er sich zu mir hinunterbeugt, um mir aufzuhelfen.
Auch der grimmige Blonde lässt sich dazu herab, mir auf der anderen Seite unter die Arme zu greifen, und gemeinsam heben sie mich auf einen Stuhl mit geschwungenen Beinen, der wohl als Besucherstuhl vor dem großen Schreibtisch steht. In seiner Form erinnert mich der Stuhl an den, den Alex in seinem Schaufenster stehen hat.
Vorsichtig, um meinen noch immer leicht benommenen Kopf nicht allzu sehr zu strapazieren, sehe ich mich um. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt eine halb gerauchte Pfeife. Der gar nicht einmal unangenehme Geruch des brennenden Tabaks, ist unverkennbar derselbe, den auch der Körper des grimmigen Blonden verströmt. Er vermischt sich mit dem Weihnachtsgeruch, den ich inzwischen überdeutlich im gesamten Raum wahrzunehmen vermag. Ich glaube, es sind getrocknete Nelken.
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