Ich bücke mich, um meine Tasche anzuheben und über meine Schulter zu streifen.
Aus Furcht eine filigrane Porzellanfigur umzustoßen, die auf einem zierlichen Beistelltischchen direkt rechts neben dem Sprechenden Spiegel steht, trete ich einen vorsichtigen Schritt zurück und stolpere über eine Teppichkante, womit das Verhängnis unaufhaltsam seinen Lauf nimmt: Ich verliere das Gleichgewicht und rudere unwillkürlich mit den Armen, um mich wieder zu fangen.
Da sich aber in meiner linken Hand bereits meine schwere Handtasche befindet, entsteht durch mein Rudern eine Unwucht, die die Tasche unkontrolliert in die Höhe schnellen lässt und mir somit endgültig jegliche Balance nimmt.
Vollkommen machtlos, das Folgende noch irgendwie zu verhindern, falle ich nach hinten, wo ich in meinem Rücken den Spiegel weiß. Dabei sehe ich noch, wie meine dicke Handtasche die Porzellanfigur mitreißt, die urplötzlich in hohem Bogen auf mich zugeflogen kommt.
Es handelt sich dabei um ein junges Mädchen in Bauerntracht, das sich anmutig um ein Schäfchen bemüht, welches sich vertrauensvoll in seine langen Röcke schmiegt. Das alles in Pastelltönen gehalten. Absolut kitschig. Aber bestimmt schweineteuer, weil wahrscheinlich original chinesisches Porzellan der Ming-Dynastie oder so etwas in der Art.
Innerlich resignierend, addiere ich den geschätzten Betrag für die chinesische Schäferin zu dem des Sprechenden Spiegels und wappne mich schon für den zweifellos unangenehm werdenden Schriftverkehr mit meiner Haftpflichtversicherung.
Dann sehe ich nur noch mit ungläubigem Staunen, wie die Schäferin mich in meinem Sturz überholt, das Spiegelglas hinter mir durchschlägt und wir anschließend gemeinsam in einem ohrenbetäubenden Klirren durch den hölzernen Rahmen fallen.
Nur Sekundenbruchteile später, wird unser Sturz abrupt von der Zimmerecke unmittelbar hinter dem Spiegel gestoppt. Die Schäferin zerschellt an der hölzernen Wandvertäfelung, gefolgt von meinem Hinterkopf, der mit einer solchen Wucht gegen das dunkle Holz knallt, dass mir augenblicklich die Sinne schwinden.
Das Letzte, was ich noch wahrnehme, während mein Körper in Zeitlupe zu Boden rutscht, ist das leise Knirschen der Porzellansplitter unter meinem Po sowie der Klang zweier Männerstimmen, die unisono einen Schreckensruf ausstoßen. Danach wird es endgültig schwarz um mich.
Freitag, 19. August 2016
Gregor und Alex stürzen auf der Stelle herbei, als der Spiegel zu Bruch geht. Gregor zuerst, dicht gefolgt von Alex, der bereits auf halbem Weg in sein Büro war, um den Auflauf aus dem Ofen zu holen. Beide sehen sie, wie die Spiegelscheibe in tausend Scherben zersplittert, als Lena in Begleitung ihres Ungetüms von Handtasche und einer original Biedermeier-Porzellanfigur rückwärts durch den antiken Rahmen fällt.
„Um Himmels Willen, Lena, bist du verletzt?“, ruft Alex, noch während er sich zwischen seinem kostbaren Mobiliar zur Unfallstelle hindurchschlängelt. „Wo ist sie hin?“, fügt er wenige Sekunden später verblüfft hinzu, als er neben Gregor ankommt.
Dieser steht da wie gelähmt und starrt sprachlos abwechselnd auf den Spiegel und dann auf die Stelle dahinter, wo es nichts zu sehen gibt, außer einem Haufen gesplitterten Glases.
„Keine Ahnung“, presst er schließlich hervor. „Sie ist durch den Spiegel gefallen und war dann einfach weg.“ Er blickt Alex an und hebt hilflos die Schultern, wohl wissend wie verrückt das klingt, was er sagt.
„Einfach weg?“, wiederholt Alex mit gerunzelter Stirn und geht vorsichtig um den Spiegel herum, auf dessen Rückseite die Scherben auf dem Teppich vor der holzvertäfelten Wand verstreut sind.
Fassungslos starren sich die beiden durch den leeren Spiegelrahmen an und verharren dann einige Sekunden lang schweigend, ein jeder um Worte ringend, bei dem Versuch zu begreifen, was da gerade vor ihren Augen geschehen ist.
„Ich verstehe das nicht“, findet Gregor als erster seine Sprache wieder. „Sie müsste doch jetzt hier vor uns auf dem Fußboden liegen, mitten in den Scherben. Aber da ist nichts!“ Er bemerkt selbst, dass in seiner Stimme ein unverkennbar hysterischer Unterton mitklingt. Was aber ja wohl erlaubt sein dürfte, wenn die eigene Schwester einfach so verschwindet, während man dabeisteht.
„Nein, da ist nichts“, bestätigt Alex das Offensichtliche und kommt langsam wieder hinter dem Spiegel hervor. „Man könnte fast denken, sie sei vom Erdboden verschluckt worden.“
„Aber das kann doch gar nicht sein!“ Gregor rauft sich die Haare. Dann ruft er spontan: „Lena?“ Und noch einmal, wütend jetzt: „Lena!? Wenn das hier ein Witz sein soll oder ein blöder Streich, dann wäre es jetzt ein guter Zeitpunkt, um die Sache aufzuklären!“
Angespannt wartet er, hält den Atem an und lauscht. Aber nichts geschieht.
„Nichts“, wendet er sich an Alex. „Als ob sie überhaupt niemals hier gewesen wäre.“ Er macht eine Geste in den Raum und schüttelt hilflos den Kopf. „Dafür muss es doch eine sinnvolle Erklärung geben. So etwas gibt es doch gar nicht!“
„Ganz ehrlich, wenn ich soeben nicht da hinten gestanden und es gesehen hätte, würde ich es auch nicht glauben“, meint Alex, nicht minder perplex.
Erneut rennt Gregor einmal um den Spiegel herum. „Meine Schwester ist weg!“, ruft er zum wiederholten Male. „Oh mein Gott! So etwas gibt es doch nicht! Ich werde verrückt!“ Dann wendet er sich an Alex und sieht ihn streng an: „Was ist das für ein Spiegel, Alex?! Wie kann es sein, dass Lena verschwindet, nachdem sie in dieses Ding da fällt!?“ Er deutet auf den leeren Holzrahmen und hört selbst, dass er auf einmal anklagend und misstrauisch klingt. Kann es sein, dass er sich in Alex getäuscht hat und dieser nicht einfach bloß der freundliche und harmlose Antiquitätenhändler ist, der er vorgibt zu sein, sondern in Wahrheit ein windiger Betrüger oder Krimineller oder…?
„Ich… ich weiß es nicht, Gregor!“ Alex macht eine hilflose Geste und sieht ihn aus großen Augen ratlos an. „Ich schwöre dir, dass ich ebenso überrascht und fassungslos bin wie du!“
Gregor betrachtet prüfend seinen neuen Freund, der abwechselnd hilflos die Hände ringt oder sich die Haare rauft. Dabei wandert sein Blick immer wieder entsetzt zwischen Gregor, dem Scherbenhaufen und dem leeren Rahmen hin und her.
Die Fassungslosigkeit und seine Bestürzung sind nicht im Mindesten geschauspielert. Wenn mit dem Spiegel oder irgendetwas sonst in diesem Raum etwas nicht stimmen sollte, dann hat Alex davon bisher offensichtlich keine Ahnung gehabt, ist sich Gregor plötzlich sicher.
„Hast du die Wand hinter dem Spiegel mal abgeklopft? Vielleicht ist da ja eine Geheimtür hinter der Vertäfelung?“, fragt er ihn etwas ruhiger.
Aber Alex schüttelt den Kopf. „Du kannst die Wand gerne untersuchen. Aber wir hatten vor zwei Jahren einen kleinen Wasserschaden in dieser Ecke und mussten die Vertäfelung an dieser Stelle entfernen. Dahinter ist bloß eine nackte Ziegelwand, da bin ich mir sicher.“
Erneut fallen sie in Sprachlosigkeit, und ein jeder für sich zermartert sich das Hirn nach einer logischen und vernünftigen Erklärung für das, was hier soeben passiert sein mag, immer wieder unterbrochen von der Frage: Wo um alles in der Welt ist Lena hin? Und hoffentlich ist ihr nichts Schlimmes passiert?!
*
Erst nach unbestimmter Zeit, komme ich ganz allmählich wieder zu mir. Das erste, was ich spüre, ist zum einen mein pochender Kopf und sind zum anderen zwei starke Arme, die mich an Nacken und Schulter umfasst haben und in halb aufrechter Position halten, während der Rest meines Körpers auf dem hölzernen Fußboden ruht. Letzteres kommt mir ein wenig merkwürdig vor, da Alex‘ Laden in meiner Erinnerung vollständig mit Teppichen ausgelegt ist. Aber meine Erleichterung über die Entdeckung, dass ich die Holzdielen unter mir deutlich fühlen und ich somit schon einmal nicht querschnittgelähmt sein kann, ist in diesem Moment größer als meine Verwunderung.
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