‚Ein echter Charakterkopf‘, denkt Gregor und bedauert, dass er jetzt seine Kamera nicht dabeihat.
Die Augen des Alten huschen hellwach zwischen Gregor und Alex hin und her. „Ihr zwei seht aber ganz schön fertig aus, wenn ich das mal sagen darf! Kann es sein, dass ihr es in den letzten Nächten ein bisschen zu bunt getrieben habt?“, erkundigt er sich vielsagend und setzt noch eins drauf: „Ihr denkt aber hoffentlich auch immer an die Kondome, ja?“
„Opa!“, ruft Alex, sichtlich peinlich berührt über die Direktheit des alten Mannes, während Gregor unwillkürlich losprustet. „Keine Sorge, Herr Sieveking. Bei uns hat alles seine Ordnung“, versichert er Alex‘ Opa. Der alte Mann gefällt ihm. Er mag zwar alt sein, aber er ist nicht von gestern; das hat Alex wirklich treffend beschrieben.
„Mal abgesehen davon, dass du das gar nicht so genau wissen musst“, schaltet Alex sich ein, „haben wir beiden im Moment auch eigentlich ganz andere Sorgen.“
„Ihr habt ein Problem, Junge?“ In Herr Sievekings Augen blitzt es und er setzt sich in seinem Rollstuhl unwillkürlich auf. „Schieß los! Worum geht’s?“
‚Umständliches Drumherumgerede scheint nicht seine Sache zu sein‘, denkt Gregor amüsiert, während Alex zu sprechen beginnt.
Ohne ihm irgendetwas zu verheimlichen, erzählt er seinem Opa von Lenas Besuch im Laden und wie sie dann über die Teppichkante stolperte und in den Sprechenden Spiegel fiel. „Seitdem ist sie verschwunden“, beendet Alex seinen Bericht. „Einfach weg!“
„Wir haben die Vermutung, dass ihr Verschwinden irgendetwas mit dem Sprechenden Spiegel zu tun hat“, ergänzt Gregor, „und haben nun gehofft, dass Sie uns vielleicht mehr darüber sagen können.“
Eine ganze Weile lang bleibt es still. Nur Freddy Quinn singt unverdrossen vor sich hin. Inzwischen gibt er „Junge, komm bald wieder“ zum Besten.
‚Wie passend‘, denkt Gregor.
„Die Sprechenden Spiegel aus Lohr“, meint der Alte schließlich nachdenklich, „sollte an den Legenden, die man sich darüber erzählt, denn am Ende doch etwas Wahres dran sein? Als junger Mann habe ich es tatsächlich noch für möglich gehalten. Man sagte diesen Spiegeln nach, „immer die Wahrheit zu sagen“, was die meisten Leute als Anspielung darauf deuten, dass die Spiegel so sorgfältig und kunstvoll gefertigt waren. Im Märchen von Schneewittchen hat man diese Idee dann aufgegriffen und wörtlich genommen: Der Spiegel der bösen Stiefmutter spricht dort tatsächlich. Ich fand diesen Gedanken immer faszinierend. Deshalb habe ich mich in den späten Fünfzigern, als ich das Antiquitätengeschäft eröffnet habe, darum bemüht so einen Spiegel zu bekommen. Was auch geklappt hat.“
„Du hattest schon einmal so einen Spiegel?“, hakt Alex nach.
Herr Sieveking nickt. „Nicht denselben, wie er jetzt im Laden steht“, stellt er klar, „einen anderen. Aber auch ein schönes Stück. Auf ihm stand geschrieben „Elle brille à la lumière“.
„Sie glänzt im Licht“, übersetzt Alex.
„Das soll wohl so viel heißen, wie „Sie ist so schön“?“, vermutet Gregor.
Alex und sein Opa nicken.
„Jahrelang hat der Spiegel im Laden gestanden. Viele Kunden interessierten sich dafür, aber keiner wollte einen angemessenen Preis dafür bezahlen.“ Herr Sieveking hebt gleichgültig die Achseln, wobei Gregor auffällt, dass sich nur die eine Seite anhebt. Die linke scheint infolge des Schlaganfalls offenbar gelähmt zu sein.
„Und?“, fragt er den alten Mann mit halbem Ernst. „Hatten Sie den Eindruck, dass die Frauen, die vor dem Spiegel standen, davor wirklich schöner wirkten? Denn wenn ja, dann wäre dies ja ein Hinweis darauf gewesen, dass die Legenden stimmen könnten.“
„Nun ja. In der Tat sind mir die Frauen damals besonders schön vorgekommen. Aber das könnte auch daran gelegen haben, dass ich damals, mit Mitte zwanzig voll im Saft stand und nahezu alles schön fand, was einen Rock anhatte“, kichert Herr Sieveking, was ihm ein erneutes entsetztes Augenrollen seines Enkels einträgt.
„Am Ende hast du den Spiegel aber dann wohl doch noch verkaufen können. Weißt du noch an wen?“, erkundigt sich Alex dann.
„Irgend so ein Scheich aus den Emiraten. Wenn du es genau wissen willst, musst du im Archiv nachsehen.“
„Du meinst die große Kiste im Keller, in der du wahllos alles durcheinander aufbewahrt hast?“, meint Alex.
„Genau die“, nickt Herr Sieveking und kichert erneut.
„Na super!“, stöhnt Alex. „Darin möchte ich nur im äußersten Notfall nach etwas suchen müssen!“
„Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird“, beruhigt Gregor ihn. „Wenn ich das richtig verstanden habe, dann besitzt jeder dieser Spiegel seine eigene spezifische Besonderheit, die aber nichts mit der Funktion der anderen Spiegel zu tun hat.“
„Du meinst, der Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter konnte sprechen, der von Opa machte schön und der, den ich im Moment im Laden habe, lässt einen durch die Zeit reisen. Aber das alles machen sie völlig unabhängig voneinander?“, fasst Alex zusammen.
Gregor nickt. „Es würde uns deshalb nicht weiterhelfen, wenn wir dem Spiegel hinterherforschen, der in die Emirate gegangen ist. Wir müssen uns auf den konzentrieren, der jetzt bei dir im Geschäft steht.“
„Über den weiß ich leider nichts, was ihr nicht auch schon wüsstet. Tut mir echt leid, Jungs“, bedauert Herr Sieveking. Dann grinst er schelmisch: „Aber wenn ihr herausfindet wie er funktioniert, dann gebt mir Bescheid. Vielleicht springe ich dann auch noch durch die Scheibe und komme am Ende als junger Mann wieder raus!“
„Gott bewahre! Nach dem, was du da vorhin angedeutet hast, müssten wir ja alles, was Röcke trägt dann erst mal vor dir warnen“, lautet Alex‘ trockener Kommentar.
„Kein Problem“, lacht Gregor, „das machen wir ratzfatz via Facebook.“
Sie bleiben noch etwa eine halbe Stunde bis sie sich verabschieden – und passenderweise auch die CD von Freddy Quinn zu Ende ist, sodass sie sie auf Wunsch von Alex‘ Opa noch gegen eine von Hans Albers austauschen können.
„Ist ein netter Junge, dein Gregor. Den solltest du dir warmhalten“, rät Herr Sieveking seinem Enkel zum Abschied, was diesen erneut in große Verlegenheit stürzt.
Gregor zieht ihn lachend aus dem Zimmer und legt beschwichtigend seinen Arm um die Schultern seines Freundes. „Ich finde deinen Opa echt klasse!“, meint er tröstend.
„Er dich offenbar auch“, grinst Alex erleichtert.
Als sie in das Antiquitätengeschäft zurückkehren, ist dort alles unverändert. Der Zettel, den sie geschrieben haben für den Fall, dass Lena während ihrer Abwesenheit auftaucht, liegt unberührt vor dem Spiegel auf dem Fußboden.
Enttäuscht hebt Gregor ihn auf. Obwohl er natürlich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, dass Lena ausgerechnet dann wiederkommt, wenn er mit Alex den Laden verlässt, hat ein kleiner Teil von ihm insgeheim doch auf ein Wunder gehofft. Allerdings verschwendet er nicht viel Zeit darauf Trübsal zu blasen, dafür ist er zu gut gelaunt. Der Besuch beim alten Herrn Sieveking hat ihm viel Spaß gemacht. Auch wenn er, was den Spiegel angeht, kein durchschlagender Erfolg war, so war ihr Besuch auf keinen Fall umsonst.
Alex hatte recht. Es war gut, dass er mal vor die Tür und ein wenig auf andere Gedanken gekommen ist.
Sonntag, 22. August 1841
Meister Gercke hat das Wunder tatsächlich vollbracht: Noch rechtzeitig vor dem Kirchgang, lässt er mir durch einen Laufburschen das versprochene Sonntagskleid inklusive der dazu passenden Accessoires liefern: Schal, Handschuhe und Hut. Sein Tempo ist wirklich unglaublich. Ich kann es mir nur so erklären, dass er entweder ein ganzes Heer von Gehilfen hat oder aber derzeit keinerlei andere Aufträge bearbeitet und auch die Nächte durchnäht.
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