Als wir um die Mittagszeit endlich fertig sind, sind wir beide sehr zufrieden. Der Schneider ebenso wie ich. Er verspricht, morgen bereits wieder zu kommen und mir das Sonntagskleid zu bringen. Eine Ankündigung, die ich insgeheim mit einiger Skepsis zur Kenntnis nehme, da ich mir nicht vorstellten kann, wie der Meister das schaffen will. Aber wenn er meint, das sei machbar, dann soll es mir recht sein.
Am Nachmittag nimmt sich Eduard Sieveking ein wenig Zeit, um mich im Haus und in der Firma herumzuführen. Er zeigt mir als erstes die gut bestückte Bibliothek und danach das Musikzimmer, in dem zu meiner Freude neben Flöten und einem Geigenkoffer auch ein gut gestimmtes Tasteninstrument steht, von dem ich später lernen werde, dass es sich um ein Pianoforte handelt. Zwar spiele ich nicht übermäßig gut, habe es früher aber durchaus schon einmal gerne getan. Ich nehme Sievekings Angebot das Zimmer zu nutzen, also gerne an. Anschließend zeigt er mir noch die Firma. Von den Kontorräumen aus, die ich ja schon kenne, werden sowohl das Handelshaus Sieveking, als auch die Reederei verwaltet, die beide eng miteinander verflochten sind.
Auf meine Nachfrage hin, klärt er mich darüber auf, wie das Familien- und Geschäftsleben bei Sievekings genau organisiert ist: Seit dem Tod ihres Vaters vor elf Jahren, teilen sich Henry und Eduard gemeinsam die Geschäftsleitung ihrer Reederei und Handelsgesellschaft. Sie besitzen mehrere Großsegler, mit denen sie sowohl eigene, als auch die Waren anderer Händler zwischen Afrika und Hamburg hin und her transportieren. Ich erfahre, dass es sich dabei hauptsächlich um Gewürze – insbesondere Nelken, aber auch Zimt, Pfeffer und Vanille - Palmkerne, Tierhäute und Kautschuk handelt. Außerdem handeln sie seit Neuestem mit Kaurimuscheln.
Herr Sieveking deutet mein verdutztes Gesicht richtig und erklärt mir, dass es sich dabei um schneckenförmig geformte Muscheln handelt, die auf den Seychellen häufig vorkommen und in weiten Teilen Afrikas als Zahlungsmittel gelten. Die Sievekings beladen ihre Schiffe mit diesen Muscheln und verkaufen sie dann über ihre eigene, von Henry Sieveking erst vor drei Jahren neu eingerichtete Faktorei im nigerianischen Lagos nach West- und Zentralafrika weiter. Devisenhandel auf altmodisch sozusagen, denke ich.
Die Hauptniederlassung ihrer Firma befindet sich allerdings nicht in Lagos, sondern auf der Insel Sansibar, wo Henry Sieveking die letzten fünf Jahre verbracht hat und von wo er gestern erst nach Hamburg zurückgekehrt ist.
Fünf Jahre war er weg? Das ist verdammt lange, schießt es mir durch den Kopf. Normalerweise verbringt wohl jeder der Brüder jeweils nur ein Jahr auf Sansibar, während der andere die Geschäfte in Hamburg leitet. Warum der grimmige Henry diesmal so lange weg war, wird bei unserem Gespräch aber leider nicht ganz klar, und ich traue mich auch nicht so recht danach zu fragen.
Nachdem Herr Sieveking wieder an seine Arbeit zurückgekehrt ist, schaue ich mich ein wenig in der Bibliothek um. Der Bestand an Unterhaltungsliteratur ist für meine Begriffe reichlich begrenzt, umfasst aber das gesamte Who-is-Who der deutschen Dichter und Denker: Fontane, Goethe, Kleist und Schiller stehen zur Auswahl und bringen mich bereits bei der Nennung ihrer Namen zum Gähnen, erinnern sich mich doch an endlos lange Stunden im Deutschunterricht. Ein Blick ins Impressum verrät mir jedoch, dass die in feines Leder gebundenen Bände alle erst in den vergangenen Jahren erschienen sind. Somit habe ich es hier also durchaus mit den obersten Plätzen der aktuellen Bestsellerlisten zu tun.
Wie sich die Zeiten und Geschmäcker doch ändern, denke ich und suche mir am Ende tapfer ein Buch von E.T.A. Hoffmann aus. Da das Buch jedoch nicht nur in der derzeit üblichen gestelzten Sprache verfasst, sondern zudem auch noch in altmodischer Druckschrift gesetzt ist, die zu lesen ich als extrem anstrengend empfinde, verliere ich bald die Lust am Lesen und gehe ins Musikzimmer hinüber.
Auch hier gibt es eine große Auswahl an Noten. Ich lese Namen, die mir aus meinem Klavierunterricht bekannt sind. Schubert, Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms…Vermutlich stehen diese für meinen Begriff „klassischen“ Komponisten derzeit alle in den aktuellen deutschen Charts und sind gerade ebenso frisch wie die Bücher in der Bibliothek. Der Gedanke lässt mich doch ein wenig schmunzeln.
Am Ende finde ich etwas von Mendelssohn und beginne zu spielen. Für meinen Geschmack gelingt es mir erstaunlich gut, obwohl ich schon ewig kein Klavier mehr angefasst habe. Ermutigt von meinem ersten Erfolg, spiele ich dann noch einige weitere Stücke, deren Noten hier im Raum herumliegen. Dazwischen klimpere ich die Refrains des einen oder anderen Hits aus 2016, was mir sehr viel Spaß macht. Mir war gar nicht bewusst, dass ich das Musizieren vermisst habe.
Während ich an diesem Pianoforte sitze, kommt mir in den Sinn, dass ich eigentlich nicht mehr gespielt habe, seitdem ich mit Johannes zusammen bin. Das liegt daran, dass ich vor Johannes nicht spielen mag, weil er mich ständig unterbricht und verbessert. Na ja, er ist eben ein Profi und arbeitet tagtäglich mit Top-Musikern zusammen. Vor so jemandem kann mein Geklimper nicht bestehen - und er kann es leider auch nicht lassen, mich auf sämtliche Fehler hinzuweisen, die mir unterlaufen. Das nervt, und deswegen habe ich das Klavierspiel an den Nagel gehängt. Aber hier, sage ich mir, kann Johannes mich ja nicht hören und bei jedem falschen Tönchen gequält das Gesicht verziehen. Hier kann ich frei von der Leber weg alles runterspielen, was mir in den Sinn kommt. Und von dieser Gelegenheit mache ich dementsprechend ausgiebig Gebrauch, bis es zu meinem Erstaunen bereits Zeit ist für das Abendessen. Wer hätte gedacht, dass man einen Tag mit vermeintlichem Nichtstun so gut herumbringen kann?
Sonntag, 21. August 2016
Sie betreten den Flur des modernen Alten- und Pflegeheims, in dem Alex‘ Opa seit seinem Schlaganfall lebt.
„Guten Tag, Herr Wahle! Ihr Opa ist auf seinem Zimmer“, begrüßt sie eine der Pflegerinnen. Die junge Frau strahlt Alex an und errötet sogar ein bisschen, als er freundlich zurückgrüßt und sich bei ihr für den Hinweis bedankt.
„Die steht auf dich“, flüstert Gregor grinsend, als sie außer Hörweite sind.
„Wundert dich das etwa?“, grinst Alex zurück und fügt mit gespieltem Ernst hinzu: „Du bist schließlich nicht der einzige Mensch mit gutem Geschmack!“
Gregor knufft ihn zur Antwort in die Seite.
Dann sind sie auch schon vor der Tür zum Zimmer von Alex‘ Opa angekommen.
„Hermann Sieveking?“, liest Gregor das Namensschild, das neben der Tür angebracht ist.
Alex nickt. „Er ist mein Opa mütterlicherseits“, erklärt er, bevor er anklopft.
Als sie eintreten, schallt ihnen die Stimme von Freddy Quinn entgegen, der aus den Lautsprechern eines tragbaren CD-Radios „La Paloma“ singt.
Alex‘ Opa sitzt im Rollstuhl vor dem bodentiefen Fenster und beobachtet die Spatzen, die sich draußen in einem der Kastanienbäume tummeln, die vor dem Heim gepflanzt sind. Als sich die Tür öffnet, wendet er jedoch neugierig den Kopf und lächelt erfreut, als er seinen Enkel erkennt. „Alex! Das ist ja schön, dass du kommst“, übertönt seine erstaunlich kräftige Stimme die von Freddy Quinn. „Aber warum so früh? Sonst kommst du immer erst am späten Nachmittag?“
„Hallo Opa!“, lächelt Alex und umarmt den alten Mann. Dann stellt er ihm Gregor vor, der ihm zur Begrüßung die Hand schüttelt.
Gregor fühlt, wie die tiefdunkelblauen Augen des alten Mannes ihn aufmerksam mustern. Buschige Augenbrauen, ein mächtiger Schnurrbart und hellgraues, borstiges Haar prägen seinen Kopf. In seinen Augen blitzt es schelmisch, was dem Mann, trotz seines Alters etwas Jungenhaftes verleiht.
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