„Seien Sie versichert, verehrtes Fräulein Jensen, dass wir Ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten diesbezüglich jedwede notwendige Unterstützung zukommen lassen werden und dass Sie selbstverständlich solange bei uns wohnen können“, versichert mir Eduard Sieveking, wofür ich ihm ein dankbares Lächeln schenke. „Darüber hinaus werden wir unser Bestes geben, um Ihr Geheimnis zu wahren.“ Er sieht abwechselnd einmal zu mir, dann zu seinem Bruder hin, um sich unser stummes Einverständnis zu sichern und fügt erklärend hinzu: „Ich denke doch, wir sind uns einig, dass wir alle drei über Ihre exakte Herkunft Schweigen wahren werden? Den Aufruhr möchte ich nicht miterleben müssen, sollte allgemein bekannt werden, dass ein Mensch aus der fernen Zukunft unter uns weilt.“
„Aber ja“, stimme ich ihm von ganzem Herzen zu und sehe mich vor meinem geistigen Auge schon von Journalisten und Paparazzi verfolgt. Obwohl es die zu dieser Zeit vielleicht doch noch nicht gibt. Aber Sensationsgier gibt es bestimmt auch schon im 19. Jahrhundert, in welcher Form auch immer, und ich möchte mich lieber auf meine Rückkehr konzentrieren, als darauf, mir neugierige Leute vom Leib zu halten. „Auf keinen Fall möchte ich irgendwem erklären müssen, dass ich einen Zeitsprung gemacht habe. Die Leute würden mich ja für verrückt erklären!“, ergänze ich.
Während der freundliche Eduard zustimmend nickt, kommentiert der grimmige Henry meine letzte Bemerkung zwar schweigend, aber mit hochgezogenen Brauen, was zu deuten ich mich dann doch geflissentlich weigere.
Freitag, 20. August 1841
Es wird spät an diesem Abend. Was nicht weiter verwunderlich ist, haben die Sievekings und ich doch mehr als genug Gesprächsstoff.
Nachdem Eduard mir angeboten hat, weiterhin im Haus wohnen zu bleiben, machen wir uns zunächst zu dritt Gedanken darüber, wie man den übrigen Zeitgenossen mein plötzliches Auftauchen möglichst glaubhaft erklären könnte.
„Ich habe von Ida bereits gehört, dass ich eine Schiffbrüchige bin, die vor wilden Piraten gerettet werden musste“, berichte ich den Herren. Dabei lege ich bewusst eine übertriebene Dramatik in die Stimme, um deutlich zu machen, dass ich die Geschichte für zu dick aufgetragen halte und werfe einen spöttischen Blick auf Henry Sieveking, der sich diese schräge Story ja wohl ausgedacht hat.
Er zieht es jedoch vor, meine Provokation zu ignorieren und gibt vor mit dem Paffen seiner Pfeife vollauf beschäftigt zu sein.
„Aber die Idee ist ja vortrefflich!“, ruft sein Bruder begeistert aus. „Ein solcher Überfall würde erklären, warum Sie offensichtlich überhaupt kein richtiges Gepäck und keine Kleider besitzen. Dafür erweist sich zudem der Umstand, dass Henry just gestern aus Afrika zurückgekehrt ist als äußerst segensreich.“
„Das würde aber bedeuten, dass ich vorgeben muss, ebenfalls aus Afrika zu kommen. Haben Sie auch schon einen Vorschlag, was ich dort gemacht habe?“, erkundige ich mich gespannt.
„Leider noch nicht. Vielleicht können wir gemeinsam etwas Glaubhaftes erfinden?“, schlägt er vor.
Das ist ja nett. Ich darf also mal etwas mitentscheiden. Das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen! Zum Glück bin ich in Geografie etwas besser bewandert, als in Geschichte. Diesen Umstand habe ich auch Caro zu verdanken, die jeden Cent, den sie im Buchladen verdient in Fernreisen investiert, zu denen sie sich am eigenen Arbeitsplatz inspirieren lässt. Dementsprechend hat sie als Couch-Surferin schon viele exotische Orte und Städte bereist und mir von dort die eine oder andere Postkarte geschickt – zumindest bis vor ein paar Jahren noch, als das noch nicht als altmodisch galt. Dank Caro weiß ich daher, ohne im Internet recherchieren zu müssen, dass Sansibar eine Insel im Indischen Ozean ist, direkt vor der Küste Afrikas und dass die Insel zu Tansania gehört – zu meiner Zeit jedenfalls.
Eduard Sieveking ergänzt, dass die Insel im Jahr 1841 unabhängig ist und von einem Sultan regiert wird.
Auf Grundlage dieser Basisinformationen, lasse ich dann meiner Fantasie hemmungslos freien Lauf.
Leider finden meine Ideen zunächst nicht den begeisterten Zuspruch, den ich erwartet hätte. Meine Vorschläge, als Missionarin auf dem Festland tätig gewesen zu sein oder als wohltätige Schwester in den Armenvierteln von Daressalam, werden beide als vollkommen unglaubwürdig abgeschmettert. „Wie wäre es, wenn ich eine dem Harem entflohene Ehefrau des Sultans von Sansibar bin?“, schlage ich als nächstes vor, woraufhin ich von den beiden Brüdern um ein Haar ausgebuht werde. Ich vermute, einzig die Tatsache, dass die Sievekings zu wohlerzogen dazu sind, hindert sie daran.
„Dies ist nicht nur unglaubwürdig, sondern auch extrem abträglich für die guten geschäftlichen Beziehungen unserer Firma ins Sultanat, sollte dem Sultan diese Geschichte jemals zu Ohren kommen“, so lautet das einhellige vernichtende Urteil der Herren.
Nach einigem Hin und Her einigen wir uns schließlich auf Folgendes: Ich bin Magdalena Jensen, die unverheiratete Tochter des Abenteurers und Forschers Adam Jensen, der auf Sansibar bedauerlicherweise dem Malariafieber erlegen ist. Da ich weder auf Sansibar noch sonstwo auf der Welt weitere Verwandte habe (was ja wohl derzeit leider mehr als wahr sein dürfte), habe ich ein Schiff in die norddeutsche Heimat bestiegen, das bedauerlicherweise kurz darauf von Piraten überfallen wurde. Glücklicherweise kam Henry Sieveking gerade im richtigen Augenblick des Weges, um mich aus dem Indischen Ozean zu fischen (diese Stelle empfinde ich persönlich als den größten Schwachpunkt in unserem Konstrukt) und nach Hamburg zurück zu bringen, wo ich so lange zu bleiben gedenke, bis ich mir über meine weitere Zukunft im Klaren bin (wie wahr, wie wahr).
Mal abgesehen vom Malariatod meines armen Vaters (der im Übrigen Günther heißt, aber, um Eduard Sieveking zu zitieren: „Kein Mensch heißt heutzutage Günther!“) und der Tatsache, dass es mir etwas unglaubwürdig vorkommt, Henry Sieveking würde zur Rettung von wem auch immer in den Ozean springen, gefällt mir diese Geschichte sehr gut.
Weniger Gefallen finde ich an der Idee, dass ich als Frau im 19. Jahrhundert ohne Vater oder Ehemann eine Art Vormund brauche, der meine sämtlichen Angelegenheiten regelt, wie mich die Herren Sieveking netterweise aufklären. Es ist bezeichnenderweise einer der ersten Punkte, über den sie sich Gedanken machen, nachdem wir uns meine hübsche kleine Biografie ausgedacht haben.
„Wo gibt es denn sowas?!“, brause ich auf. „Ich bin schon seit einigen Jahren volljährig, habe einen Job und verdiene mein eigenes Geld – das Letzte, was ich brauche, ist ein Vormund!“
„Aber als Frauenzimmer bedürfen Sie doch sowohl der geschäftlichen Vertretung, als auch des Schutzes“, entgegnet Eduard Sieveking, sichtlich verwundert darüber, dass mich dieses in seinen Augen wohl offensichtliche Naturgesetz derart auf die Palme bringt. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sich dies in Ihrem Jahrtausend geändert haben sollte?“
„Es hat sich geändert! Das können Sie mir glauben!“, versichere ich ihm mit Nachdruck.
Aus seinem Blick spricht nun aufrichtige Sorge. Die Vorstellung, dass Frauen ein von Männern unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führen könnten, übersteigt sichtlich seinen Horizont. Erstaunlich eigentlich. Bisher machte er auf mich einen ganz intelligenten Eindruck.
„Und wer, wenn ich fragen darf, verteidigt dann Ihre Ehre und wacht über Ihren guten Ruf?“, gibt er nicht auf.
„Nun, bisher offenbar sie selbst – mit eher bescheidenem Erfolg, wie wir alle heute unschwer feststellen konnten“, lässt sein Bruder verlauten und lächelt herablassend.
Ob dieser selbstgerechte Idiot wohl auch mal etwas Sinnvolles zum Gespräch beitragen kann? Verärgert setze ich dazu an, ihn und sein vorlautes Mundwerk in die Schranken zu weisen, bremse mich aber im letzten Augenblick. Zum einen scheint es mir wenig ratsam sich mit den einzigen Menschen anzulegen, die ich derzeit hier in Hamburg kenne und die noch dazu bereit sind, mir in meiner prekären Lage zu helfen. Zum anderen führt mir unsere kleine Meinungsverschiedenheit deutlich vor Augen, wie wenig Ahnung ich eigentlich von den Sitten und Moralvorstellungen dieser Zeit habe, in die ich da hineingestolpert bin. Was ich jetzt bräuchte, wäre so eine Art Reiseführer für Zeitreisende. Aber ich fürchte, den gibt es noch nicht einmal bei „Dr. Krothe“ zu kaufen.
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