„Oder das Mittelalter? Oder die Steinzeit?“, wirft der grimmige Henry launig ein, wofür er ein sanft tadelndes Kopfschütteln seines Bruders erntet.
Letzterer ist es auch, der mir ernsthaft antwortet: „Wie man unsere Epoche einmal nennen wird, das weiß ich leider nicht. So etwas wird ja immer erst rückblickend von späteren Generationen definiert. Was ich Ihnen jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir das Jahr 1841 schreiben und das letzte größere geschichtliche Ereignis wohl die Befreiung Europas von der Herrschaft Napoleons vor gut fünfundzwanzig Jahren war. Seitdem erleben wir eine Zeit des Friedens und des sich mehrenden Wohlstands bei uns in Hamburg.“
‚1841. Das ist nicht ganz so weit in der Vergangenheit zurück, wie ich befürchtet hatte‘, denke ich ironisch. ‚Vielleicht erleichtert dieser Umstand ja mal auf irgendeine Weise meine Rückkehr?‘ Ich spreche den Gedanken laut aus, woraufhin Henry Sieveking nüchtern feststellt: „Sie bleiben also bei Ihrer Behauptung, dass Sie selbst und dieses schwarze Kästchen nicht aus einer räumlichen, sondern vielmehr aus einer zeitlichen Ferne zu uns gekommen sind? Also von einem Zeitpunkt her, der aus unserer Sicht noch nicht stattgefunden hat?“
„Ja, dabei bleibe ich, denn es ist die reine Wahrheit“, nicke ich ernsthaft und ergänze noch: „Wenn ich Ihnen zeigen darf, was ich alles in meiner Tasche dabeihabe und Ihnen ein paar der Gegenstände sogar vorführen kann, wird es mir gewiss gelingen Sie davon überzeugen, dass ich Sie nicht anschwindele.“
„Nun, dann schlage ich vor, dass wir die Tafel aufheben und uns hinüber in den Salon begeben“, schlägt Eduard Sieveking vor, und sein Bruder ergänzt süffisant:
„Ja, lassen Sie uns sehen, was Sie aus Ihrer Tasche hervorzuzaubern vermögen! Auch, wenn ich kein bisschen daran glaube, dass der Inhalt uns wird überzeugen können, so verspricht es doch zumindest ein unterhaltsamer Abend zu werden. Man bekommt ja nicht alle Tage eine Varieté-Vorstellung frei Haus geboten.“
*
Nachdem ich meine Tasche aus dem Kleiderschrank in meinem Zimmer geholt habe, wo ich sie vorsorglich verstaut habe, damit sie mir nicht erneut abhandenkommen kann, treffe ich die beiden Sievekings in ihrem Salon wieder. Als ich ihn betrete, fühle ich mich ähnlich wie vorhin bereits im benachbarten Speisezimmer so, als würde ich eine lebensgroße Puppenstube betreten: alles sieht sehr freundlich und hell, ungemein sauber und ordentlich aus.
Ich darf mich auf ein elegantes Kanapee setzen, das hinter dem Tisch steht. Die ovale Tischplatte ist auffällig gemasert, wobei die Maserung spiegelbildlich angeordnet ist. Wahrscheinlich liegt deshalb keine Tischdecke darauf, damit man das Muster sieht.
Die hohen Wände des Salons sind beigefarben gestrichen. Daran hängen an ausgewählten Stellen in Reihen jeweils zwei Scherenschnitte von Leuten, die ich zwar nicht kenne, die jedoch bei genauem Hinsehen Ähnlichkeit mit Eduard und Henry Sieveking aufweisen.
In der von mir aus gesehen rechten Zimmerecke steht ein schmaler Ofen. An der mir gegenüberliegenden Wand, über einem schlichten Sekretär, hängt das Portrait einer hübschen jungen Frau mit Kleidern und einer Frisur, wie man sie vor langer Zeit getragen hat. Also jetzt gerade, erinnere ich mich.
Neben dem Sekretär mit dem Portrait befindet sich eine weißlackierte Holztür, durch die wir aus dem Speisezimmer hereingekommen sind. Daneben entdecke ich ein kleines Nähtischchen und einen schmalen Sessel, der so platziert ist, dass er gleichzeitig vor dem hohen Sprossenfenster steht. Eine weitere, dem Fenster gegenüberliegende Tür, führt nach draußen auf die Galerie. Vor dem Fenster hängen ebenso wie nebenan im Raum weiße, luftige Gardinen, die jeweils an der Seite gerafft sind, sodass man nach draußen auf die Giebel der gegenüberliegenden Straßenseite schauen kann.
Die Männer setzen sich auf Stühle mir gegenüber. Der grimmige Henry stopft sich die Pfeife, und der freundliche Eduard schlägt lässig die Beine übereinander.
„Nun, dann führen Sie uns die wundersamen Dinge aus Ihrer Tasche doch einmal vor“, fordert der Letztgenannte mich auf, wobei er einen durchaus aufgeschlossenen Eindruck macht – im Gegensatz zu seinem Bruder, der mich über den Rand seiner Pfeife hinweg mit unverhohlener Skepsis mustert.
Ich beginne also eifrig damit, Gegenstände aus meiner Tasche auszupacken, von denen ich am ehesten vermute, dass sie meinen beiden Gastgebern angemessen futuristisch vorkommen, und führe sie ihnen gegebenenfalls vor: einen Kugelschreiber zum Beispiel, einen Lippenstift, meine Sonnenbrille, eine kleine Minitaschenlampe, die ich an meinem Schlüsselbund mit mir führe, obwohl ich längst eine entsprechende App auf meinem Handy habe…
Die beiden Brüder folgen meinen Ausführungen mit spürbar wachsender Aufmerksamkeit und untersuchen meine Habseligkeiten mit großem Interesse.
Ich gewinne den Eindruck, dass ich zumindest den Jüngeren der beiden schließlich von meiner Redlichkeit überzeugen kann. Der Ältere jedoch scheint mir noch immer nicht so recht zu trauen. Bis mir dann endlich mein Geldbeutel in die Hände fällt, in dem sich nicht nur Münzen und Geldscheine mit darauf ausgewiesener Jahreszahl befinden, sondern außerdem mein Personalausweis, der neben meinem Konterfei auch schwarz auf weiß mein Geburtsdatum und den Wohnort ausweist.
„Es stimmt also wirklich“, stellt der jüngere Sieveking schließlich mit fassungslosem Kopfschütteln fest, während sein Bruder mit gerunzelter Stirn den Ausweis und die Euroscheine untersucht, offensichtlich in der Hoffnung, doch noch einen Beleg dafür zu finden, dass ich eine Hochstaplerin bin. Aber auch ihm scheinen allmählich die Gegenargumente auszugehen, denn er gibt mir die Sachen schließlich zurück, ohne irgendetwas daran zu mäkeln zu finden. Während er sich in seinen Stuhl zurücklehnt und bedächtig an seiner Pfeife zieht, macht sein inzwischen überzeugter Bruder keinen Hehl mehr daraus, dass er mir glaubt.
„Sie kommen demnach tatsächlich aus der Zukunft zu uns?“, vergewissert er sich nochmals und klingt dabei merkwürdig andächtig.
Ich nicke verlegen. So wie er das sagt, hört es sich an, als hätte ich irgendeine bedeutende Leistung vollbracht.
„Ist es denn in Ihrem Zeitalter üblich, in der Zeit zu springen?“, erkundigt sich er interessiert.
„Nein, absolut nicht. Niemand kann das“, widerspreche ich. „Und ich habe offen gesagt keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist und warum es mich hierher verschlagen hat. Das Einzige, was ich weiß ist, dass ich es nicht mit Absicht gemacht habe.“
„Ich gestehe, dass wir gestern Abend zunächst nicht wussten, was wir von Ihnen halten sollen“, erzählt Eduard Sieveking. „Die Art und Weise wie Sie plötzlich unten im Kontor aufgetaucht sind, völlig unvermittelt, wie aus dem Nichts… Das hat uns doch sehr stutzen lassen. Dann noch dazu Ihre freizügige Kleidung, und wie Sie schließlich diesen kleinen Kasten auspackten und damit durch das Zimmer liefen auf der Suche nach irgendetwas…“
„Ein Netz“, helfe ich ihm, „ich habe nach einer Netzverbindung für mein Handy gesucht…“ Dann unterbreche ich mich selbst, weil mir klar wird, dass ihm diese Erklärung rein gar nicht weiterhilft.
Er hebt zur Antwort auch nur vielsagend die Brauen, als sei damit alles gesagt.
Ich lasse mir seine Beschreibung durch den Kopf gehen und stelle mir vor, wie mein Verhalten wohl in seinen Augen gewirkt haben muss. Unwillkürlich muss ich lachen. „Bestimmt bin ich Ihnen wie eine Außerirdische vorgekommen! Das hätte ich jedenfalls gedacht, wenn mir so jemand wie ich begegnet wäre!“, kichere ich.
Der junge Sieveking stimmt in mein Lachen ein.
Sein Bruder natürlich nicht, was mich auch wieder ernst werden lässt: „Fragt sich jetzt bloß, wie ich wieder nach Hause zurückkomme?“ Hilflos hebe ich die Schultern.
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