Aber dieser schaut betont gleichgültig und gibt vor, die stumme Frage des Jüngeren nicht zu bemerken.
Was haben die bloß mit diesem Kleid?
Ida kommt und trägt das Essen auf, sodass die Gelegenheit verstreicht nachzufragen, was es damit auf sich hat.
Geistesgegenwärtig wirft Henry Sieveking bei ihrem Eintreten eine Serviette über mein Handy, bevor ihr Blick darauf fallen kann.
Während des Essens dreht sich unser Gespräch zunächst um das Gewitter und erst später um die Ereignisse des heutigen Tages, über die der grimmige Henry seinen Bruder in knappen Worten in Kenntnis setzt.
„Um Himmels Willen, das hätte übel für Sie ausgehen können, Fräulein Jensen!“, ruft Eduard Sieveking aus, als er die Geschichte gehört hat. „Wie sind Sie denn bloß auf die Idee gekommen, auf eigene Faust und noch dazu ohne männliche Begleitung durch die Stadt zu laufen?“
„Nun, ich bin schon ein großes Mädchen und kann normalerweise ganz gut ohne Kindermädchen spazieren gehen“ beantworte ich seine Frage lächelnd.
„Wie wir sehr anschaulich gesehen haben“, wirft der grimmige Henry trocken ein und bedenkt mich mit einem vielsagenden Blick aus seinen unglaublichen Augen.
„Es ist heute alles nicht ganz so optimal gelaufen“, gebe ich zu. „Aber das liegt nur daran, dass sich die Stadt so verändert hat und ich deswegen die Orientierung verloren habe!“
„Als du eingetreten bist, setzte Fräulein Jensen gerade dazu an mir zu verraten, woher genau sie eigentlich kommt und was sie zu uns ins Haus verschlagen hat“, informiert er seinen Bruder und nickt mir dann auffordernd zu: „Nun mal endlich heraus mit der Sprache, Fräulein: Aus welchem fernen, unbekannten Land kommen Sie? Und wie ist es möglich, dass Sie trotzdem unsere Sprache sprechen, fast als sei es Ihre eigene?“
„Nun, Letzteres ist leicht zu beantworten: Ich bin Hamburgerin, genau wie Sie und wohne schon mein ganzes Leben lang in dieser Stadt“, beginne ich zu erläutern und fahre dann hastig fort. „Was Ihre erste Frage angeht, ist die Erklärung jedoch etwas komplizierter: Ich komme nämlich aus der Zukunft, direkt aus dem Jahr 2016.“
So, jetzt ist es raus. Angespannt blicke ich zwischen den beiden Herren hin und her, in banger Erwartung ihrer jeweiligen Reaktion. Werden sie mir glauben? Oder werden sie mich für eine Lügnerin halten? Vielleicht sogar für eine entlaufene Irre? Und welche Konsequenzen werden sie dann daraus ziehen?
Zunächst einmal starren mich beide bloß sprachlos an. Was ich gut verstehen kann. Es würde mir genauso gehen, wenn mir jemand solch eine haarsträubende Behauptung servierte. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter den Stirnen der beiden heftig arbeitet und ihre Gehirne in blitzschneller Folge sämtliche Möglichkeiten bezüglich meiner Person durchspielen und auf ihre Wahrscheinlichkeit hin überprüfen.
Tja, ich mache mir nichts vor: Die Hypothese, dass ich die Wahrheit sage und tatsächlich ein Mensch aus der Zukunft bin, ist mit Abstand die Unwahrscheinlichste von allen.
Daher bin ich nicht weiter überrascht, als Eduard Sieveking, der als Erster seine Sprache wiederfindet, sich zwar noch immer freundlich, aber doch merklich irritiert erkundigt: „Ist das Ihr Ernst, Fräulein Jensen? Versuchen Sie tatsächlich gerade uns für dumm zu verkaufen?“
„Nein, aber nein. Es ist die Wahrheit. Das müssen Sie mir glauben!“, versichere ich hastig. „Ich weiß, dass es unglaublich klingt, und ich habe es selbst ja den ganzen Tag über nicht kapieren wollen. Aber es ist wohl wirklich wahr!“ Und dann erzähle ich ihnen ausführlich, wie ich gestern – also um genau zu sein, am 19. August 2016 – den Antiquitätenladen von Alex in exakt diesem Hause betrat, in dem wir jetzt gerade sitzen. Ich berichte, was Alex meinem Bruder und mir über den Sprechenden Spiegel und die Legenden erzählt hat, die sich angeblich darum ranken, als wir uns das besagte Stück in seinem Verkaufsraum ansahen. Um meine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, beschreibe ich das Aussehen des Spiegels haargenau und verhehle den beiden auch nicht, dass ich mich über den Sinnspruch auf dem Rahmen skeptisch, wenn nicht sogar ein wenig abfällig geäußert habe. Danach schildere ich noch, wie mir anschließend beim Anheben meiner Tasche die Teppichkante in die Quere kam, ich das Gleichgewicht verlor und ich dann mitsamt der Tasche und der pastelligen Porzellanfigur vom Beistelltisch durch die Spiegelscheibe fiel. „Das Nächste, woran ich mich dann wieder erinnere ist, dass ich bei Ihnen unten im Kontor auf dem Fußboden zu mir kam“, beende ich meinen Bericht.
Erneut herrscht ungläubige Stille in unserer kleinen Runde. Die erst halb aufgegessenen Teller auf dem Tisch hat schon lange keiner mehr von uns angerührt, und das Essen ist mit Sicherheit inzwischen kalt.
Nervös rühre ich mit meinem Besteck auf dem Teller herum, um es gleich darauf wieder zur Seite zu legen. Dabei denke ich fieberhaft nach, was ich ihnen noch erzählen könnte, damit sie mir endlich Glauben schenken.
Da unterbricht die Stimme Henry Sievekings die Stille. Er spricht drei schlichte Worte ganz gelassen aus: „Beweisen Sie es!“
Ich überlege kurz. Dann ziehe ich das lädierte Handy, das nach wie vor unter seiner Serviette liegt, darunter hervor und lege es zwischen den beiden Herren auf den Tisch. „Ich habe diesen Gegenstand heute Vormittag auf der Straße verloren, und ihr Bruder hat ihn wiedergefunden“, wende ich mich erklärend an Eduard Sieveking. „Offenbar besteht das Ding aus einem Material, das Ihnen beiden unbekannt ist. Es ist aus einem von Menschen auf chemischen Wege erzeugten Kunststoff gemacht, ein Herstellungsverfahren, das man zu Ihrer Zeit wohl noch nicht kennt.“
Eduard Sieveking wiegt nach wie vor skeptisch den Kopf. „Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass Sie aus der Zukunft kommen. Vielleicht sind Sie bloß aus einem entfernten, noch unentdeckten Erdteil hierher gesegelt, wo man bereits fortschrittlicher ist als bei uns“, wendet er ein.
„Ein noch unentdeckter Erdteil?“ Jetzt ist es an mir, ungläubig zu gucken. Da ich aus einer Welt komme, in der bekanntlich der gesamte Globus per Satelliten permanent durchgescannt wird, klingt sein Gedanke ein wenig bizarr in meinen Ohren. Für einige Sekunden lang stelle ich mir vor, was meine beste Freundin Caro wohl zu seiner Bemerkung sagen würde. Sie ist Fachverkäuferin in der Abteilung Übersee bei „Dr. Krothe Land und Karte“, einer Buchhandlung bei uns in Hamburg, die auf Landkarten, Globen, Navigationsgeräte und sämtliche gedruckte Literatur spezialisiert ist, die auch nur im Entferntesten mit Reisen zu tun hat. Caro fände die Vorstellung unentdeckter Erdteile jetzt gewiss zum Brüllen komisch. Bei „Dr. Krothe“ rühmt man sich, sogar Landkarten aus dem wirklich allerletzten Winkel der Erde vorrätig zu haben und – wenn ausnahmsweise einmal nicht – dann doch über Nacht für den Kunden besorgen zu können. „Wir finden auch noch die vorletzte verzeichnete Jurte in der hintersten Mongolei“, behauptet Caro immer. Demnach dürften unentdeckte Erdteile für sie vollkommen lächerlich sein.
Aber dann fällt mir auch die Spezialabteilung bei „Dr. Krothe“ ein, in der man historische Landkarten und Stadtpläne erwerben und sich sogar fachgerecht einrahmen lassen kann. Auf einigen dieser Karten gibt es tatsächlich noch zahlreiche und noch dazu enorm große der sprichwörtlichen weißen Flecken. Insofern ist Herrn Sievekings Einwand dann wohl doch gar nicht so erstaunlich, je nachdem, aus welcher Zeit er kommt. Das bringt mich prompt wieder zu der entscheidenden Frage zurück, die mich den ganzen Tag über schon umtreibt: „Darf ich einmal höflich fragen, in welcher Zeit und in welchem Jahr ich mich jetzt genau befinde? Ist das hier die Renaissance? Oder das Barock? Oder…“
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