1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Hat man die Ursache dieser Apokalypse herausgefunden?« Olivia war für den Augenblick schockiert.
»Gerade vor ein paar Monaten. Es handelt sich wohl um ein entzündungshemmendes Mittel aus der Humanmedizin, dass man seit den neunziger Jahren auch den Rindern zu verabreichen begann. Bei den Geiern, sie sind diejenigen, die die weißen Rinder fressen, ruft es eine Art Gicht hervor. Sie sitzen reglos auf ihren Ästen, die Köpfe zwischen den Krallen, als sei ihr Genick gebrochen und irgendwann fallen sie dann tot vom Baum. Letztendliche Todesursache ist Nierenversagen.«
»Und wie geht man mit dieser Katastrophe jetzt um?«
»Das Medikament wird nicht mehr für Rinder eingesetzt. Damit haben die letzten Geier eine Chance, zu überleben und sich wieder fortzupflanzen. Aber wie lange wird es dauern, bis sie wieder eine nennenswerte Zahl erreicht haben? Um die Vermehrung zu beschleunigen, richtet man Zuchtstationen für Geier ein. Das habe ich vor Kurzem gehört.«
Im Moment fühlte Olivia die Leere einer großen Fassungslosigkeit in sich. Ihr Blick traf ihren Onkel. Der saß zurückgelehnt in der Tiefe seines Sessels und grinste sie an. Während sie ihn mit schmalen Augen musterte, vertiefte sich sein Grinsen noch, dabei blieben die Augen ernst. Die ihren wanderten weiter. Roger Mottram zog an seiner Zigarre. Aphra griff zur Teekanne und schenkte Olivia nach. Die nahm sich nachdenklich Milch, rührte um und nahm den Pfarrer fest in den Blick: »Sie haben sicher über die Todesfälle, die Sie ins Grübeln brachten, immer wieder nachgedacht. Dabei wird Ihnen hier und da etwas aufgefallen sein, das Sie stutzen ließ. Was davon fällt Ihnen jetzt ein?« fragte sie freundlich. Sie trank einen kleinen Schluck von dem sehr heißen Tee, stellte entgegen ihrer Gewohnheit die Tasse ab und wartete. Raymunds Grinsen war verschwunden.
Unbeholfen legte der so direkt Angesprochene die halbgerauchte Zigarre beiseite und stemmte sich zu aufrechter Haltung hoch. »So auf Anhieb fällt mir gar nichts ein. Ich habe nur die Zahlen, diese beunruhigenden Zahlen, die auch Raymund beunruhigend fand. Aber sehen Sie, die Schwierigkeit beginnt schon damit, dass ein Teil, sagen wir die Hälfte dieser Todesfälle zumindest, sicher ganz normal zustande kam. Aber welche Hälfte? Ich weiß nicht mal das, wie sollte ich auch.« Er sah Olivia beklommen an: »Wenn wir einfach nur Ihre Zeit vergeuden, sagen Sie es ohne Scheu und wir begraben das Ganze.«
»Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten«, schaltete Raymund sich entschlossen ein. »Unser Verdacht ist doch zu gravierend und mit dem Tod von Mrs Large haben wir einen konkreten Fall, der euch ganz speziell beunruhigt und an dem wir ansetzen können. Wir sollten diese Chance nutzen.«
Der Pfarrer sah mit sichtlichem Unbehagen zu seiner Frau hinüber. »Raymund hat recht«, gab sie zu. »Delia starb zum falschen Zeitpunkt. Natürlich kann man auch aus übergroßer Freude sterben, aber ein solcher Gefühlsüberschwang lag ihr fern. Warum dann also in dieser entspannten Situation?« Sie sah zu Olivia hinüber: »Ich weiß darauf keine Antwort.«
»Erzählen Sie mir von Mrs Large. Von deren Freunden hier am Ort oder woanders, von Verwandten. Welcher Art war ihr Umgang, besuchten sie sich, wie lange kannten sie sich, was für ein Leben führte sie…«
Aphra rückte auf die Sesselkante vor, nahm ihre Teetasse auf und begann umzurühren. »Delia lebte über vierzig Jahre hier im Dorf, in jenem wunderschönen weißen kentischen Landhaus am Green. Sie führte eine gute Ehe, zu ihrem Leidwesen ohne Kinder, seit neun Jahren war sie Witwe. Sie hatte Jura studiert und für Amnesty International gearbeitet, das ging zu guten Teilen von zu Hause aus. Sie war die erste im Ort, die ein Faxgerät hatte, und die erste mit Internetanschluss. Bis zuletzt arbeitete sie für Amnesty, so weit ihre Kräfte es erlaubten.« Aphra beendete das Kreisen in ihrer Tasse und legte den Löffel ab.
»Delia hatte einen Bruder«, erinnerte sie sich weiter, »den ich nie kennengelernt habe. Er ist schwer gehbehindert und bleibt in seinem Haus in Snowdonia. Er muss ein rechter walisischer Querkopf sein. Susan ist seine Enkelin.«
»Er kam auch nicht zu Beerdigung?«
»Hier gab es lediglich einen Trauergottesdienst. Delia wurde eingeäschert und die Urne nach Wales zum Familiengrab verschickt. Dort werden sich wohl alle versammelt haben. Damit meine ich, dass neben der nicht sehr zahlreichen Verwandtschaft doch wohl ihre beiden Freundinnen aus London nach Wales gefahren sein werden. Aber ich weiß das nicht. In den letzten Jahren hat sie die beiden abwechselnd mehrmals im Jahr in London besucht und bei der Gelegenheit Einkäufe gemacht, Theater besucht und die Heide von Hampstead. Es muss schön gewesen sein, sie kam immer sehr heiter zurück.«
»In den Jahren davor war das anders?«
»In sofern, als sie und ihr Mann ein Apartment in London hatten, auch beruflich immer wieder dort waren. Wie häufig sie sich seinerzeit mit ihren Freundinnen traf, weiß ich nicht so genau.«
»Gab es Gegenbesuche?«
»Ja, beide waren immer mal wieder hier auf dem Lande, mit Ehemann, ohne Ehemann, sehr selten gemeinsam. Aber auch das kam vor. Ich lernte sie kennen, aber nur im Vorbeigehen, wenn wir uns halt zufällig begegneten.«
»Demnach hielt Mrs Large ihr Leben hier in Howlethurst und in London auseinander?«
Aphra besann sich. »Ach wissen Sie, so kann man das eigentlich nicht sagen. Sie wohnte hier. Und sie kam jeden Sonntag zum Hauptgottesdienst in die Kirche. Danach redete sie mit dem einen oder anderen, wie es sich halt ergab. Sie interessierte sich durchaus für das Leben der Menschen um sich herum, hörte aufmerksam zu, vergaß so gut wie nichts, leistete Hilfe, wenn man sie darum bat. Mancher ging zu ihr, wenn er sich aussprechen wollte. Für Probleme hatte sie immer Zeit, für einen einfachen Tee eigentlich nie. Aber das störte auch niemanden.«
»Was machte sie, wenn sie nicht arbeitete und doch hier war?«
»Sie hat hinter dem Haus einen großen, sehr, sehr schönen Garten…«
Olivia lachte leise: »Natürlich! Sie sind die einzige Freundin hier am Ort gewesen, ist das so?«
»Ja, wir waren befreundet, solange wir hier sind, kann ich fast sagen. Wie es sich damals ergeben hat, weiß ich nicht mal mehr. Es stimmte einfach…« Traurig senkte Aphra den Kopf. Olivia hielt inne und sah Roger Mottram zu, der seine kalte Zigarre sehr konzentriert zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hin und her rollte.
»Über Tote soll man nur Gutes reden, das Bild von Delia Large hält sich vorbildlich an diese Regel«, störte Raymund die Stille. »Ich werde mich hüten, etwas anderes zu tun. Tatsache ist andererseits, wenn wir von der These eines unnatürlichen Todes ausgehen, dass es zumindest einen Feind gegeben haben muss. Ich persönlich tippe, dass er weiblichen Geschlechts ist. Aber das ist nur eine Annahme.«
Roger beendete das Rollen und sah ihn an: »Willst du damit sagen, dass sie für ihren Tod selbst verantwortlich ist?«
Der alte Militärhistoriker verneinte mit einer leichten Kopfbewegung. »Wenn ich die steigende Zahl der Todesfälle auf eine vorsätzliche Ursache zurückführe«, begann er schonend, »könnte man formulieren, dass eine Person hier im Ort den anderen oder einer Gruppe von ihnen den Krieg erklärt hat. Aber selbst wenn es sich um eine Gruppe handeln sollte, hat sie für uns Außenstehende keine sichtbaren Gemeinsamkeiten außer den ungefähren Lebensjahren. Folglich können wir einstweilen nur von Zufall ausgehen. Der große Clausewitz findet nun den Zusammenhang zwischen Zufall und Krieg ganz natürlich. Des Weiteren gehört für ihn das Glück zum Krieg, oder in unserem Fall eher das Pech. Das heißt, Delia Large kann ihren Tod durchaus selbst herbeigeführt haben, aber sie wusste davon nichts.«
Ein Schnaufen war die Antwort. »Könntest du dich etwas anschaulicher ausdrücken?«
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