»Und Sie?«
Olivia nickte erneut: »Wenn Wangari mit neuen Stoffen aus Afrika zurückkommt, wandere ich in ihrem Haus an der ausgebreiteten Pracht entlang und wähle diejenigen aus, die mit mir reden, wenn Sie verstehen…«
Jetzt nickte Susan.
»Die engere Auswahl konfrontieren wir dann mit den Modefarben des kommenden Winters. Da wir Einzelstücke herstellen, müssen die Kundinnen woanders einen Rock oder eine Hose dazu finden können; die wenigsten wollen in bunten Hosen und bunten Pullovern gleichzeitig herumlaufen, auch wenn sie durchaus aufeinander abgestimmt sind. Die darauffolgenden Wochen schwelge ich dann in einer Fülle von Wolle, bis ich ungefähr ein Dutzend Strickmuster entworfen habe.«
»Die Sie nicht selber stricken?«
»Nein, ich stricke nur meine eigenen Sachen und auch nicht gar so viele, drei bis fünf im Jahr vielleicht… Dieses kleine Farmhaus ist ja wild romantisch!« Olivia blieb am Zaun stehen und sah auf ein überquellendes Durcheinander von Pflanzen, Gartenmöbeln und Kinderspielzeug. Diese Pracht steht tagsüber leer, sagen Sie?«
»Es muss so sein, immer, wenn ich vorbeikomme, ist alles still.«
Susan war daran vorbeigegangen, ehe sie stehen blieb. Olivia betrachtete sich alles eingehend, bevor sie zu ihr aufschloss. Erst nach weiteren fünfzig Metern redete sie weiter. »Wie lange sind Sie hier in Howlethurst?«
»Fast drei Wochen.«
»Und wann kamen Sie zum ersten Mal hier vorbei?«
»Nun, vor Jahren«, ihre Augen lächelten, »und vor vielleicht zwei Wochen… Die Leute könnten auch in Urlaub sein… meinen Sie das?« Olivia nickte wieder einmal.
»Oh, die Stille muss nichts bedeuten, nicht in England. Ein Familienwochenende und am Montag ab mit den Kindern in die Krippe, die Schule und zurück in das andere Leben. Sie sind anders aufgewachsen?«
»Ja, ganz anders. Meine Eltern wohnten bei den Eltern meines Vaters, sie unten, wir oben. Tagsüber lebte ich unten bei meiner Großmutter, mein Großvater hatte seine Schreinerwerkstatt hinten im Garten, er war also auch viel einfach da und ich lief zwischen ihnen hin und her und schaute zu und redete mit beiden. Wir redeten den ganzen Tag. Ich tat auch mit, wenn ich durfte.«
»Eine sehr unenglische Kindheit… ging es so weiter?«
»Nein! Als ich vier war, ging mein Vater, er war Archäologe, im Urwald von Belize oder Guatemala verloren. Ein gutes Jahr später gab es noch immer kein Lebenszeichen von ihm. Meine Mutter arbeitete in der Kostümabteilung des Victoria und Albert Museums. Als sie dann das Angebot bekam, die Verwaltung des historischen Kostümfundus der Salzburger Festspiele zu übernehmen, griff sie zu. Und ich geriet nach Österreich und in die dortige Schule, lernte richtig Deutsch in der täglichen Übung und pendele seitdem zwischen diesen beiden Ländern hin und her.«
»Das Leben ist doch mehr als seltsam.« Nachdenklich, den Blick auf die nächsten Meter vor ihren Füßen, ging Susan weiter. »Da gibt es eine ideale Konstellation und dann geht ein Familienmitglied einfach verloren und nichts ist mehr wie vorher. Waren Sie in Salzburg viel allein?«
»Nein. Das war meiner Mutter unvorstellbar.«
»In Salzburg geht man nicht so leicht verloren wie in Mittelamerika, nehme ich jedenfalls an.«
»Das wohl nicht. Aber ein Kind, das seine Umgebung überhaupt nicht kennt und die Sprache unvollkommen, ist ein spezieller Fall, so sah meine Mutter es jedenfalls. Nach der Schule ging ich in ihr Büro. Dort hatte sie mir einen eigenen Winkel eingerichtet mit einem kleinen Schreibtisch, an dem ich meine Schulaufgaben machte und mich in Bilderbüchern mit der deutschen Sprache herumschlug. Als ich mich allmählich in der deutschen Sprache sicher fühlte, begann ich auf eigene Faust die Schneiderwerkstätten zu entdecken, danach den Fundus – hunderte und aberhunderte von Kostümen… können Sie sich vorstellen, wie es ist, aus einem spannenden Buch aufzutauchen und in eine solche Welt zu geraten? Oder umgekehrt?«
»Vermutlich nicht. Meine Welt war immer sehr wirklich…«
»…und sie waren sehr allein… oder?«
»Schwer zu sagen, ich lebte meist unter vielen Menschen, in Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Internaten und in Indien in einem Waisenhaus. Allein, wirklich allein bin ich jetzt zum ersten Mal.«
»Sie waren früher häufiger hier?«
»Ein paar Mal, ja. In den letzten Jahren.«
»Wie kam es dazu?«
Susans Blick streifte ihre Gefährtin, die riesige Schafweide und konzentrierte sich dann wieder auf die wenigen Meter vor sich. »Es scheint alles so lange her zu sein und dabei sind es ganze viereinhalb Jahre. Damals traf ich Tante Delia in London. Ich verbrachte gerade einige Ferientage bei meiner Mutter und irgendwie erreichte mich ihre Einladung zu einem Picknick in der Heide von Hampstead. Ich sehe das London dieses Tages immer wieder vor mir, von jenem Hügel aus unten im Sommerdunst. Es war meine Stadt, nie hatte ich das so deutlich empfunden. Ich hatte überhaupt nie das Gefühl gehabt, irgendwohin zu gehören. Tante Delia hatte mich wohl beobachtet, jedenfalls stellte sie die richtigen Fragen und das Ende dieses Gespräches war eine Einladung in ihr Haus in Kent, das nun das meine ist.« Sie schwieg und ließ den Blick zurück und über die Schafe schweifen.
Ihr Lächeln zeigte sich wieder und sie folgte der stummen Aufforderung zum Weitersprechen. »Die ersten zwei Wochen hier veränderten mich mehr als ich damals erkannte. Im nächsten Sommer verbrachte ich die gesamten Ferien bei Tante Delia und fuhr nur gelegentlich für einen Tag nach London, um meine Mutter zu sehen oder einfach durch die Stadt zu laufen. Ich kannte London natürlich, schließlich bin ich dort aufgewachsen, von den Internatszeiten mal abgesehen, aber plötzlich war alles neu. Und dieses neue London gehörte auf aufregende Weise zu mir. Gelegentlich begleitete mich Tante Delia, aber nicht immer. Das ganze wiederholte sich im folgenden Sommer für vier Wochen, bevor ich nach Indien ging – und jetzt bin ich wieder hier…«
Sie waren im Reden über eine Kuppe gekommen und in einiger Entfernung sah man die ersten Häuser von Howlethurst liegen. »Schauen Sie mal«, Susan deutete mit dem Kopf leicht nach vorn, »dort taucht ein Bewohner dieses Ortes auf, der auch in Indien nicht auffallen würde.«
Sie näherten sich einander, er hielt sich genauso sorgfältig an den vorgegebenen Weg wie sie, fixierte Susan schließlich und blieb direkt vor ihr stehen. Der Mann war durchschnittlich groß, durchschnittlich breit und trug eine braune Tweedhose und eine dunkelgrüne Wetterjacke. Damit endete das Durchschnittliche abrupt. Der große Kopf wuchs ins Riesige durch eine Unmenge grauer, widerspenstiger Locken und sein Bart schien aus dem Drahthaar eines Terriers zu bestehen und bedeckte die Hälfte seiner Brust. Den Augenbrauen hatte die Natur ebenfalls ein Übermaß an Haaren zugedacht. Darunter hervor schauten wasserblaue Augen fest in Susans Gesicht. »Wieder unterwegs. Freut mich zu sehen.«
Susan antwortete mit einem Lächeln. Sie blieb stumm. Schließlich rissen seine Augen sich von ihr los und nahmen Olivia in den Blick. »Sie habe ich hier noch nicht gesehen. Besuch?« Olivia nickte schweigend. »Wir werden uns wiedersehen.« Er umrundete sie und kam hinter der Hügelkuppe zügig außer Sicht.
Olivia holte tief Luft: »Ein verkleideter Druide?«
»Wie schön, dass Sie das sagen! Vielleicht… Haben Sie seinen seltsamen Stock bemerkt? Nein? Er schwingt ihn immer in der Luft herum. Nie benutzt er ihn zum Abstützen.«
»Und?«
»Er hat auch keine Spitze, um ihn auf den Boden aufzusetzen, sondern zwei Teile, die mich an eine Zange erinnern, eine kleine Handzange an einem langen Stock.«
Zu ihrem Bedauern waren sie inzwischen auf der Hauptstraße angekommen, in einiger Entfernung lag das Kriegerdenkmal. »Er könnte die öffentlichen Anlagen dieses gepflegten Ortes reinigen und anschließend einen Spaziergang machen«, schlug Olivia vor.
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