»Ja und nein. Dienstags sitzt sie seit einigen Wochen vorn an der Bücherausgabe, sie ist vorübergehend für eine sehr nette Frau eingesprungen. Ich glaube, die Kinder kommen nun vermehrt an den anderen Tagen.«
»Das stimmt! Ich kann sie gar nicht leiden!«
»Aber Jemima, nimm es nicht persönlich. Sie kommt einfach aus einer anderen Gesellschaftsschicht. Und hier im Ort ist sie die einzige aus dieser Welt, das ist sicher auch für sie schwierig, weißt du?«
»Weiß ich. Darf ich mal an die Bücher, vor denen Sie stehen, bitte.«
Mrs Graham trat freundlich beiseite. »Das ist Jemima«, wandte sie sich mit einer einladenden Handbewegung wieder an Olivia.
»Und ich bin Viola.«
»Hab ich schon gehört.«
»Und ich dachte, du bist tief in dein Buch versunken.«
»War ich auch. Ich weiß nicht, wann Sie gekommen sind. Aber ich habe vorhin zugehört, als die alte Distel mit Ihnen geredet hat.«
Das Entsetzen von Mrs Graham beantwortete Olivia mit kaum zurückgehaltenem Gelächter. »Jemima, Cardoons sind die hohen, sehr schönen Silberdisteln. Stechen tun die anderen, die Thistles, die auf den Wiesen zwischen den Blumen wachsen und einen in die Fußsohlen beißen; du weißt, die Dinger, die Iaah vorgibt, so gerne zu fressen.«
»Sie mögen die Geschichten von Pooh?« Jemima strahlte. Doch umgehend schob sie die Schultern nach hinten: »Obwohl ich sie jetzt nicht mehr lese!«
»Warum nicht? Ich lese sie immer wieder, auch heute noch, wenn ich mich ganz schlecht fühle, zum Beispiel nach einem gruseligen Traum, mitten in der Nacht.«
»Das hilft?«
»Bei mir immer. Versuch es mal.« Mit einer leichten Geste auf das Regal, das sie blockierte, trat Olivia beiseite und ging mit ihrer Gastgeberin zurück in die Diele. Mrs Higham nahm gerade mehrere Bücher zurück, von einer großen, ernsten Frau mit schneeweißen Haaren, zu einem Knoten verschlungen. Sie redeten freundlich miteinander. »Irgendwo hier, Mrs Graham, standen doch die Bücher über Kent.« Olivia ließ sich im Schneidersitz davor nieder.
Das Abendessen begann mit Avocadoscheiben, die Raymund wie angekündigt mit Peperoni bestreut hatte, dazu Tomaten und Brot. Olivia hatte die Küchenvorhänge wie zwei Abende zuvor zugezogen und die beiden Kerzen auf dem Esstisch angezündet. Und sie steckte in ihren eigenen schmalen schwarzen Hosen. Das großgeblümte Gebilde aus Wangaris Laden lag bei den anderen seiner Art oben in Anns Zimmer.
»In eurer Bücherei ist ganz schön Betrieb, ich bin ein wenig überrascht. Die meisten leihen auch wirklich Bücher aus.«
»Sicher. Deswegen kommen sie ja.«
»Schon, aber es ist doch auch ein Treffpunkt, oder nicht? Viele reden miteinander, in allen Räumen. Ich kenne eine Dorfbücherei, in der heiliges Schweigen selbstverständlich ist.«
»Das ist aber doch Unsinn, oder? Es handelt sich ja nicht um eine Bibliothek, in der gearbeitet wird. Schließlich darf man alle Bücher mit nach Hause nehmen. Natürlich reden die Leute gern, erst einmal über Bücher. Von da kommt man weiter zu allen möglichen Sachen, das ist ganz natürlich. Aber die, die von vorne herein lieber über andere Dinge reden, treffen sich dazu auch woanders. Glaube ich zumindest.«
»Raymund, was weißt du über Lady Cardoon?«
»Hat sie dich gebissen?«
»Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, in aller kühlen Herablassung natürlich, aber nur, weil ich vorgab, nicht die zu sein, für die sie mich hielt, nämlich deine detektivische Nichte.«
Raymund lehnte sich grinsend zurück: »Man erinnert sich also tatsächlich an diese Geschichte. Ich wusste es! Ein Teil des sogenannten kollektiven Gedächtnisses. Mrs Graham weiß es jetzt auch wieder und die Erinnerung rollt. Bin gespannt, ob etwas davon an meinen Ohren vorbeizieht – aber etwas viel wichtigeres: Was hast du über dich erzählt – heute – ganz allgemein?«
»Nur, dass ich meine Cousine bin, die – oh mein Gott, Raymund! Heute Vormittag habe ich einen Fehler gemacht!« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
Er wartete gelassen und aß seine Avocado weiter.
»Dilettantenscheiße! Richtige Dilettantenscheiße!« Erschrocken richtete Marmalade sich unter ihren weichen Decken auf und starrte zum Tisch hinüber.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, teilte Raymund ihr nüchtern mit und zu seiner Nichte gewandt: »Könntest du etwas genauer werden?«
»Das Wort stammt von Marlene Dietrich und trifft meinen Fehler haargenau.«
»Die Herkunft dieses spannenden Wortes beschäftigt mich gerade nicht so sehr!« Raymund legte das Besteck beiseite und lehnte sich zurück, schließlich fragte er: »Hast du Fulham erwähnt? Bitte erinnere dich genau.«
Exakt das war es, was Olivia während seines Nachdenkens versucht hatte. »Nein, das nicht. Aber ich erzählte von meinen Großeltern, dem Verschwinden meines Vaters und dem daraus sich ergebenden Umzug nach Salzburg. Von meiner Mutter und ihrer Arbeit im Fundus der Festspiele und was ich dort trieb, jedenfalls ein wenig darüber.«
Raymund hüllte sich erneut in Schweigen. Als er sich aufrichtete, begann er, mit dem Zeigefinger unsichtbare Linien auf die Tischplatte zu zeichnen: »Wir müssen die Trennlinie zwischen Viola und Olivia verschieben und jetzt sehr genau festlegen. Mein Vorschlag ist folgender: Olivia ist Übersetzerin und Journalistin und lebt in Fulham. Nichts mehr über ihre Verhältnisse. Wie kämst du auch dazu, über sie zu reden. Im Verzweiflungsfall ist sie die Tochter eines Cousins von mir. Ich darf sie dann noch immer als ›Nichte‹ bezeichnen, da wir uns recht nahe stehen. Das müssen wir uns beide merken!«
»Verstehe.«
Ein Lächeln stahl sich zurück in Raymunds Augenfalten. »Du bist die Tochter meiner Schwester. Darüber, wie sie ihren Ehemann verlor und welche Konsequenzen sich daraus für sie ergaben, wurde sicher irgendwann geredet, von mir vielleicht nicht, aber von Ann vermutlich schon. Wer diese Fakten mit Olivia in Verbindung bringt, hat halt irgendetwas verwechselt. Darauf kannst du bestehen, denn wer außer Aphra darüber spricht, hat es nicht aus erster Quelle, behaupte ich jetzt mal. Evelyn Cardoon jedenfalls nicht. Ann konnte sie nicht leiden.«
»So definitiv?«
»Ja. Du musst dir klarmachen, dass Ann hier aufgewachsen ist, und diese Distel auch, sie kennen sich oder kannten sich, seit sie laufen können, gingen zumindest anfangs in dieselben Schulen und so weiter. Als wir vor vier Jahren hierher kamen, erfolgte eine Einladung ins Herrenhaus, nur für Ann, nicht für mich. Wir nahmen folglich an, um die alten Zeiten aufleben zu lassen. Damit wollte sie mich sicherlich nicht langweilen – Ann brauchte gerade mal diesen einen Tee mit Evelyn Cardoon, um zu beschließen, ihr weitest möglich aus dem Weg zu gehen.«
»Aber warum? Wenn sie Ann eingeladen hat, wird sie doch auch gastfreundlich gewesen sein.« Olivia erkannte ihre Tante in dieser etwas rüden Reaktion nicht wieder.
»Ann kehrte damals einigermaßen fassungslos zurück. Sie konnte nicht verstehen, dass ein Mensch sich sein ganzes Leben hindurch so wenig verändert haben sollte – das waren ihre Worte.«
»Und was meinte sie damit?«
»Evelyn Cardoon hat wohl in der Schule schon versucht, die erste Geige zu spielen und den anderen zu sagen, wo es langgeht. Ann mochte das damals nicht und erst recht nicht als reife Frau. Wie du dir das bei einem zweisamen Tee konkret vorzustellen hast, überlasse ich dir. Ann meinte damals, es müsse erlaubt sein, soviel Zucker in den Tee zu tun, wie man wolle oder auch gar keinen. Wenn dabei schon Schwierigkeiten auftauchen, sollte man die Beziehung nicht ausbauen – nun ja.« Raymund lächelte ein wenig traurig.
Nach einer Pause fuhr er nüchtern fort: »Evelyn Cardoon ist der letzte Spross eines sehr alten Geschlechtes und in ihr scheinen sich wie zu einem Finale alle negativen altadeligen Eigenschaften versammelt zu haben, lass es mich so zusammenfassen. Ich persönlich habe so gut wie nichts mit ihr zu tun, ich erzähle nur, was ich gehört habe.« Raymund nahm sein Besteck wieder auf.
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