»Warte mal!«, rief der Professor, als ich mich anschickte, ein weiteres Mal zwischen den turmhohen Regalreihen abzutauchen. »Sieh dir das hier bitte einmal an.« Ich wandte mich um und ließ den Blick über die goldenen Schriftzeichen auf der Ausgabetafel wandern. Wie immer, wenn ich in die Bibliothek hinabstieg, hatte ich mir zuvor das dritte Auge durch Rocíos Trank öffnen lassen. Flüsternd teilten mir die Runen ihre Bedeutung mit. Die Ausgabetafel zeigte den Energiebedarf der Verbraucher an.
»Fällt dir irgendwas auf?«, fragte Waterstone.
»Der Energieverbrauch in Gang 13 ist höher als in allen anderen Gängen«, erwiderte ich.
Waterstone nickte. »Ich kann nicht genau sagen, wo in dem Gang, daher wollte ich ihn aufs Geratewohl abfahren.«
»Das nächste Buch auf meiner Liste befindet sich auch dort«, entgegnete ich. »Wir können zusammen gehen.«
Wenig später betraten wir einen der Aufzüge. Die Kabine ließ sich über ein simples Steuerkreuz bedienen, das sie entlang eines rasterförmigen Schienennetzwerks lenkte. Jeder von Schienen eingegrenzte Bereich wurde durch eine Zahl als Höhenmarker und einen Buchstaben als Tiefenmarker gekennzeichnet. Das Register verriet, in welcher Kombination aus Zahlen und Buchstaben welches Buch zu finden war.
Während wir langsam vorwärtsfuhren und anschließend aufstiegen, erwachten synaígische Lampen an den Unterseiten der Regalbretter zum Leben, sobald die Kabine in ihre Nähe gelangte, und verloschen, wenn wir sie hinter uns ließen – noch etwas, das nicht hier gewesen war, als Norin diesen Ort betreten hatte. In regelmäßigen Abständen passierten wir Reihen von Löchern im Metall der Schienen – gerade groß genug, dass eine Zigarette hineingepasst hätte. Waterstone, der Werke über die Bibliothek studiert hatte, vermutete, dass es sich dabei um ein Abwehrsystem gegen Enerphagen handelte. Sogenannte Silberfischfolklore machten sich offenbar liebend gerne über Schriftstücke aller Art her. Dabei vernichteten sie die Materie des Papiers, weshalb der Schaden irreversibel war. Die Folklore-Vernichter lockten die Geschöpfe mit synaígischer Energie. Sobald sie versuchten, sich in eines der Löcher zu zwängen, fuhr eine dreißig Zentimeter lange Nadel aus Messing daraus hervor, spießte sie auf und jagte synaígische Stromstöße durch ihren Leib, bis sich ihre Substanz auflöste.
»Dort!«, rief Waterstone, während er sich aus der Kabine lehnte, und deutete nach oben. Auch ich steckte den Kopf ins Freie, sah aber außerhalb des Scheins der synaígischen Lampen nur Schwärze und die Flut aus Runen, die mir das dritte Auge offenbarte.
Dann zuckte ein Blitz durch die Dunkelheit, begleitet von einem fernen Knall.
»Hast du das gesehen?«, fragte Waterstone aufgeregt. Ich nickte, war für meinen Teil aber nur beunruhigt. Hinter allem eine Gefahr zu vermuten, war Teil meines Wesens. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf, und eine ungute Vorahnung brachte jede Zelle meines Körpers in Alarmbereitschaft.
»Sei vorsichtig«, murmelte ich und legte die Rechte auf den Griff meines Revolvers.
»Vorsichtig?«, wiederholte Waterstone und lachte nervös. »Was kann uns hier schon erwarten?«
Wieder blitzte es über uns.
Ich überlegte, die Kabine anzuhalten, entschied mich aber dagegen. So würde ich dem Feind nur verraten, dass wir etwas ahnten. Vielleicht konnten wir zu unserem Vorteil nutzen, dass er glaubte, uns überraschen zu können.
»Hör auf, mich verrückt zu machen, Albert«, sagte der Professor, als ich mich beim nächsten Blitz mit wachsamer Miene hinter die hüfthohen Kabinenwände duckte. Inzwischen waren wir der Quelle so nahe, dass wir einen Regen gelber Funken sehen konnten, der jeden Blitz begleitete. Ich legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete dem Professor, ebenfalls in die Hocke zu gehen, indem ich am Ärmelsaum seines Sakkos zog. Waterstone blickte mit hochgezogenen Brauen zu mir hinab. Seine Miene änderte sich schlagartig, als wir ein Röcheln wie aus der Kehle eines Untoten hörten. Er kauerte sich in eine Ecke der Kabine und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Noch einmal legte ich einen Finger auf die Lippen. Auf Höhe des Blitzes angelangt wanderte meine Hand zum Steuerkreuz, um die Kabine anzuhalten. Ich ignorierte Waterstones stummes Kopfschütteln und wir kamen mit einem Ruck zum Stehen.
Wieder blitzte es. Wir waren der Quelle nun so nahe, dass einer der Funken in unsere Kabine trudelte. Die Hand auf dem Griff der Pistole wagte ich, einen Blick über den Kabinenrand zu werfen. Das Licht der synaígischen Lampen fiel auf einen Mann, der von einem der Folklore-Vernichter aufgespießt worden war. Die dünne Messingnadel hatte sich in seine nackte Brust gebohrt und ragte aus seinem Rücken. Er musste das selbstmörderische Unterfangen auf sich genommen haben, an dem Bücherregal hinaufzuklettern. Anders war nicht zu erklären, wie er hierhergelangt war. Seine Haut war weiß wie die eines Perlsüchtigen und spannte sich über einen muskulösen Oberkörper. Auf seinem Oberarm befand sich ein Brandzeichen in Form einer Waage. Er lebte noch. Mit beiden Händen umklammerte er die Nadel, die in seinem Leib steckte. Gerade, als er die Armmuskeln anspannte, um sich davon herunterzuschieben, jagte der Folklore-Vernichter einen weiteren synaígischen Schlag durch seinen Körper. Es knallte, gelbe Lichtbögen umspielten den Unbekannten und Funken regneten in die Tiefe. Sein Leib erschlaffte und einige Sekunden lang hing er wie ein Hühnchen am Spieß da und atmete röchelnd.
Ich zog meine Pistole und richtete sie auf den Mann. »Hey!«, rief ich. Der Unbekannte wandte den Kopf und erst jetzt bemerkte ich, dass dort, wo seine Augen hätten sein sollen, nur leere schwarze Höhlen waren. Der Mann bleckte die Zähne, die lang und nadelspitz waren, und streckte seine Hände mit Fingern, die in klauenähnlichen Nägeln endeten, nach mir aus. Meine Stimme schien ihn wild zu machen. Er strampelte in der Falle, warf den Kopf hin und her und schlug durch die Luft, bis ein weiterer Stromstoß ihn kurzfristig aller Kraft beraubte.
»Wer … was ist das?«, fragte Waterstone heiser, der sich gerade so weit hinter seiner Deckung hervorwagte, dass er das Monster sehen konnte.
»Ein Experiment deines geschätzten Kollegen Schwarzberg«, entgegnete ich grimmig. Vor dem Massenausbruch aus Sankt Laplace waren sie im Keller der Nervenheilanstalt eingesperrt gewesen. Angeblich hatte Schwarzberg dort seine misslungenen Experimente eingeschlossen, doch fragte ich mich in diesem Moment, ob es sich nicht in Wahrheit um das genaue Gegenteil handelte.
»Schwarzberg hat …«, setzte Waterstone an, doch ein Schuss aus meinem Revolver verwandelte den Rest des Satzes in einen Schrei. Die Kugel riss Schwarzbergs Experiment den halben Kopf weg. Blutige Fetzen sprenkelten die Buchrücken und verloren sich in der Tiefe. Die Bewegungen des Monsters erschlafften. Waterstone wandte den Blick ab, als sich die Nadel des Folklore-Vernichters wieder ins Loch der Schiene zurückzog und der Tote lautlos hinabstürzte. Ich sah ihm nach, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er löste sich nicht in schwarzen Rauch auf, wie Nikandros es nach seinem Tod getan hatte. Also war er kein Enerphag gewesen? Wieso hatte der Folklore-Vernichter dann auf ihn reagiert?
»Du … du hast ihn getötet«, stammelte Waterstone. Er sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ihm die Chance gegeben, sich aus der Falle zu befreien?«, entgegnete ich. Ich war dem Gedanken nicht abgeneigt gewesen, mich ein paar Stunden lang der Aura des Wesens zu widmen. Doch eine meiner grundlegendsten Überlebensregeln lautete, nicht zu zögern. Töte deine Feinde, ehe sie dich töten. »Du kannst beruhigt sein: Ich bezweifle, dass der unglückliche Mann, der er einmal war, bevor er Schwarzberg in die Hände fiel, noch existierte. Ich vermute, dass ein Enerphag in ihm steckte. Nur das erklärt, warum der Folklore-Vernichter ihn aufgespießt hat.«
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