Bis es Waterstone gelang, die Aufzüge an die Versorgung durch das Aggregat anzuschließen, nutzten wir die Energie des Balitsteins.
Indessen verbrachte Amrei die Tage damit, sich an der musikalischen Interpretation der dunklen Runen zu üben, die die Enerphag bannen würde. Damit die Violinistin draußen nicht zu hören war, spielte sie im Keller von Waterstones Wohnung. Als ich sie fragte, wie und wann sie beabsichtigte, die Norn zu konfrontieren, antwortete sie überraschend präzise: »Sie wird am sechsunddreißigsten Winterwind bei Einbruch der Nacht kommen – also in etwa knapp drei Monaten. Das sagte jedenfalls der Wurmgott.« Das konnte nur bedeuten, dass er die Zukunft kannte. Handelte es sich tatsächlich um Argos? War es ihm irgendwie gelungen, sich aus Norins Bernstein zu befreien? Und wenn ja, plante er immer noch, die Welt zu vernichten?
»Sie beobachtet euch, seit es euch gelungen ist, Nikandros zu töten«, berichtete Amrei. »Sie sinnt nach Rache, doch euer Triumph über den Norn hat sie verunsichert. Du darfst niemandem davon erzählen, dass sie kommen wird, Godric«, fügte die Violinistin hinzu. »Noch nicht jedenfalls.«
»Warum nicht?«
»Der Wurmgott sagte, wer die Zukunft kennt, kann sie verändern. Noch sind wir ihr einen Schritt voraus. Doch je mehr wissen, wann die Norn kommen wird, desto größer ist das Risiko, dass wir durch unser Handeln den Zeitpunkt ihres Erscheinens ändern.«
Waterstone genoss die musikalische Untermalung seines Heims. Hatte er sich anfangs beschwert, einer weiteren Person von außerhalb Zuflucht gewähren zu müssen, schloss er Amrei mit der Zeit ins Herz. Er bezeichnete sie Emily Moore, der Solistin der Treedsgower Philharmoniker, als ebenbürtig und bat sie mehr als einmal, ihm etwas vorzutragen.
Jasper hingegen nannte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Tunichtgut. Zugegebenermaßen zeigte sich der Izzianer nicht von der besten Seite. Er beteiligte sich, wenn überhaupt, nur widerstrebend an unserer Arbeit, durfte das Haus aber auch nicht verlassen, was dazu führte, dass er sich aus Langeweile weiter über Waterstones Vorräte hermachte. Er behauptete, zum Rauchen in die Kanalisation hinabzusteigen, doch haftete den Möbeln in seinem Zimmer ein unverkennbarer Geruch nach Zigarette an. Dazu kam, dass er sich an mehreren Abenden bis zur Besinnungslosigkeit betrank, bis Waterstone sich weigerte, June loszuschicken, um ihm Schnaps zu besorgen, und seinen Weinvorrat einschloss. Er hätte ihm wohl auch die Zigaretten verweigert, hätte Jasper nicht geschworen, dass er dann schnurstracks zum Konstabler gehen würde.
»Wozu brauchen wir ihn?«, beschwerte sich der Professor bei mir. »Er macht nur Ärger. Lass June ihn auf die andere Seite der Mauer bringen.«
»Ich bin mir sicher, dass er sich noch als nützlich erweisen wird«, entgegnete ich. »Er hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich. Gib ihm ein wenig Zeit.«
Jasper reagierte spöttisch, wenn ich die Beschwerden des Professors an ihn weitergab. »Der Mann hat einen Stock so tief im Arsch, dass du ihn in seinem Rachen sehen kannst«, meinte er. »Wer, denkt er, bin ich? Einer seiner Zöglinge, die er belehren kann?«
»Du bist sein Gast«, knurrte ich, darum bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. Probleme der Art, die sich mit Gewalt lösen ließen, waren mir eindeutig lieber.
Die Einzige, der gegenüber Jasper sich wie ein Gentleman verhielt, war Amrei. Die Violinistin reagierte zurückhaltend, auch wenn ich ihr anzumerken glaubte, dass ihr die Aufmerksamkeit gefiel. Wann immer ihn die Langeweile dazu trieb, stieg der Izzianer in den Keller hinab, um Amrei in ein Gespräch zu verwickeln.
»Willst du deinen Vater nicht wissen lassen, dass es dir gut geht?«, hörte ich ihn die Violinistin fragen, als ich den Keller auf dem Weg zur Bibliothek von Ad Etupiae durchquerte. »Er macht sich sicher Sorgen um dich.«
Amrei zögerte. »Der Wurmgott hat mir davon abgeraten.« Sie klang erstickt. »Er meinte, mein Vater würde mir nicht glauben, wer ich bin. Er würde es für einen schlechten Scherz halten und mich fortschicken. Ich werde wohl früher oder später zu ihm gehen, aber auf keinen Fall bevor wir die Norn geschlagen haben. Unser Widersehen könnte mich durcheinanderbringen.«
Die Suche nach brauchbaren Schriftstücken über die Alchemie sollte sich als eine der härtesten Geduldsproben meines Lebens herausstellen. Die Bibliothek hätte nicht besser sortiert sein können, doch die schiere Menge an Werken stellte ein ernüchterndes Problem dar. Allein zum Thema Alchemie gab es tausende Bücher. Zu meiner immensen Erleichterung gelang es Waterstone, eine Ausgabetafel neben dem Register an der Wand zu reaktivieren, die gezielt Teile der synaígischen Matrix sichtbar machte. Norin hatte sie mit keinem Wort erwähnt, weshalb ich vermutete, dass sie erst zu einem späteren Zeitpunkt dort angebracht worden war. Zwar zeigte mir auch Rocíos Trank die Runenmatrix, doch präsentierte sie sich durch das dritte Auge als ein unsteter Fluss aus Schriftzeichen. Sich darin zu orientieren, war genauso schwer, wie einen Crayon auf der Fingerspitze zu balancieren. Welcher Ausschnitt der Runenmatrix auf der Tafel sichtbar wurde hingegen, ließ sich über eine Formel auf einer in mehrere Glieder unterteilten Leiste am unteren Tafelrand einstellen. Manche Glieder ließen sich herausnehmen und durch andere ersetzen. Unter anderem konnte man so das Register der Bibliothek in goldenen Schriftzeichen auf der granitgrauen Oberfläche anzeigen lassen und sogar nach Stichworten suchen.
Während ich die Tage damit verbrachte, Bücher zu wälzen, fragte ich mich, wie sich jemand freiwillig dazu entschließen konnte, studieren zu gehen. Wie Malcolm und Clive mir berichteten, verbrachten sie abgesehen von gelegentlichen Ausschweifungen so ihren Alltag. Ich hingegen stieß schon nach nur wenigen Vierteln an meine Grenzen, und wäre es nicht für Emily gewesen, hätte ich wohl längst aufgegeben. Die Energie, die in meiner Vergangenheit regelmäßig in handfeste Auseinandersetzungen geflossen war, staute sich vor den langweiligen und Schutz bietenden Mauern des Universitätsviertels. Ich erwischte mich mehrmals dabei, wie ich mit dem Gedanken spielte, ins Hafenviertel zu gehen und mich mit Damon zu prügeln, bloß um ein bisschen Dampf abzulassen. Nach zwei Monaten der ergebnislosen Suche ließ die Vorstellung, dass die Hibridia sich einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hatte, als sie mir die Bibliothek von Ad Etupiae gezeigt hatte, mich ernsthaft zweifeln, dass ich auf dem richtigen Weg war. Sie hatte mir damals verkündet, dass ich die Antwort auf meine Fragen hier oder gar nicht finden würde.
Als ich am Abend des ersten Blätterfalls in die Bibliothek hinabstieg, um das jüngste alchemistische Werk gegen das nächste auf meiner Liste auszutauschen, traf ich Waterstone vor der Ausgabetafel beim Register an. Er und Bennett verbrachten viel Zeit damit, sie auf weitere Funktionen zu erforschen. Unter anderem war es ihnen gelungen, sich den Energiebedarf aller in der Bibliothek vorhandenen synaígischen Verbraucher ausgeben zu lassen.
»Bei Zuris!«, rief der Professor erschrocken, als ich ihn grüßte. »Schleich dich doch bitte nicht so an, Albert.« Er nannte mich immer noch bei meinem Decknamen; vermutlich, weil Bennett es nicht gutheißen würde, dass er mit einem der meistgesuchten Verbrecher des Landes zusammenarbeitete.
Waterstones Blick fiel auf das Buch in meinen Händen. »Immer noch keinen Erfolg?« Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht darum herumgekommen, dem Professor zu erzählen, wonach ich suchte. Aller Wunder zum Trotz, zu denen die Synaígie befähigte, hatte Waterstone daraufhin bloß den Kopf geschüttelt und achselzuckend kommentiert: »Wenn du deine Zeit vergeuden möchtest, werde ich dich nicht aufhalten.«
Auch jetzt bedachte er mich mit einem mitleidigen Blick, den ich ihm am liebsten vom Gesicht gewischt hätte. Offenbar erwog er, einmal mehr zu versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Dann jedoch seufzte er und wandte sich wieder der Tafel zu. Ich warf das Buch auf den wachsenden Haufen neben dem Register. Längst hatte Waterstone aufgegeben, mir den Anstieg des Energieverbrauchs aufzuzeigen, der durch meinen nachlässigen Umgang mit den Werken der Bibliothek entstand, oder mich dafür zu rügen, dass ich sie nicht wieder einsortierte.
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