Nachdem ich eines Tages auch von der künstlichen Beatmung am Vormittag „befreit“ wurde, besuchte mich meine Exfrau Sandra am Nachmittag. Das Sprechen fiel mir äußerst schwer und schmerzte, es war ungewohnt, meine eigene Stimme zu hören. Der Hals kratzte und beim Schlucken störte mich ein imaginärer Knödel. Der Luftröhrenschnitt wurde nur mit einem Plastikpflaster zugeklebt – dieses wölbte sich jedes Mal beim Ein- und Ausatmen, eines Frosches gleich. Nach einiger Zeit bat ich Sandra spontan um ihr Handy. Ich wählte Mamas Nummer und als sie annahm, sagte ich mit kurzatmiger, schwacher Stimme: „Hallo Mama, ich bin es, kann ich mal mit Celina sprechen?“ Meine Mutter war so froh meine Stimme zu hören – sie wusste nichts von meiner Beatmungsentwöhnung – ich merkte durchs Telefon wie sich die Tränen voller Freude in ihren Augen ansammelten. „Celina, der Papa kann wieder reden!“ Als ich Celinas schüchternes „Hallo Papa“ hörte, schnürte es mir den Rachen zu – ich blickte auf die Zauberprinzessin und versuchte meine Freudentränen zu unterdrücken… Die Ärzte und die Psychologen meinten, es wäre jetzt noch zu früh für die Kinder, mich zu sehen. All die Geräte und den hilflos daliegenden Papa so zu erleben, wäre vor allem für Fabienne noch nicht zumutbar gewesen.
Einmal, ganz überraschend und ohne Ankündigung, besuchte mich ein Pfarrer – ich nehme an es war ein Seelsorger, der im Auftrag der Anstaltsleitung Besuche abstattete – er war nur ein paar Minuten bei mir im Zimmer, fragte ein paar Belanglosigkeiten, woher ich komme, wie alt ich sei, etc. Dabei legte er seine Hände auf meinen Brustkorb. Zu meinem Unfallhergang stellte er keine Fragen (vermutlich wurde er vorab schon informiert). „Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut – Gott steht dir bei!“ Bevor er wieder ging, erteilte er mir Gottes Segen und gab mir ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Anschließend fühlte ich mich um einiges besser. Woher kannte ich diesen Pfarrer? Sein Gesicht und seine Stimme waren mir irgendwie vertraut. Ich grübelte eine Weile über diese nette Kurzvisite – dann wusste ich es: Er hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Mann, der mich damals im Dezember in meiner Arbeit im Parteienverkehr besuchte. Jener kleine grauhaarige Mann, der mir sagte, ich solle auf mich aufpassen, er sehe mir an, dass es mir nicht gut gehe! Damals hatte er so etwas von Recht! Heute denke ich noch häufig über diese beiden Begegnungen nach. Hatten sie tatsächlich stattgefunden? Ich zweifle noch manchmal an der Existenz dieses Mannes. Oder war es ein Bote, der mich leiten sollte? Ein Gesandter … Gottes?
Natürlich könnte ich nachforschen, einfach mal im Krankenhaus fragen, wer dieser Pfarrer denn gewesen sei… doch nein, ich möchte mich nicht meines schönen Gedankens, meiner Illusion berauben… Ich habe mir fest vorgenommen, falls ich ihn jemals wieder treffen sollte, werde ich mir die Gelegenheit nicht mehr entgehen lassen und mich ausführlich mit ihm über so manche Dinge unterhalten!
Einen Tag bevor ich die Intensivstation verlassen konnte, wurde mir eine weitere, fundamentale Tatsache vor Augen geführt: Eine der Schwestern hatte mir die Verbände gewechselt. Sie erzählte mir, dass sie erst seit ein paar Wochen hier auf der Intensivstation arbeitete und ich merkte eine gewisse Unsicherheit in ihrem Tun. Als sie fertig war, stand sie für eine Weile am Fenster und blickte in die Ferne. „Darf ich mal was fragen? Ich meine… nun ja… ich habe schon manchmal darüber nachgedacht… naja, wie ist das, wenn man da oben steht, ähm…, der Moment bevor man dann wirklich springt?“ sie wandte sich zu mir und sah mich mit fragenden, verwunderten und zugleich ängstlichen Augen an. „Wie fühlt sich das an? Ich kann mir das nicht vorstellen?“ Ich war ganz von der Rolle, habe mit solchen Fragen nicht gerechnet und sogleich war es der Schwester auch peinlich. „Oh, entschuldige. Das ist mir so rausgerutscht…!“ Sie verließ fluchtartig den Raum. Ich war ganz konsterniert – doch mit einem Schlag wurde es mir klar: Oh Gott, ich werde nun von der Welt da draußen als derjenige angesehen, der sich das Leben nehmen wollte! Bis jetzt war ich so sehr mit meinem Überlebenskampf beschäftigt, dass ich mir darüber noch gar keine Gedanken machen konnte. Nicht nur ich mit mir alleine musste ins Reine kommen. All die Mitmenschen gingen davon aus, dass ich also meinem Dasein ein Ende setzen wollte. In großen Lettern habe ich auf meiner Stirn SELBSTMÖRDER eingebrannt! Nun ja, er befindet sich wegen Depressionen in Behandlung, er springt wo runter – da braucht man nur eins und eins zusammenzählen – und es ist glasklar: Dem ist es zu viel geworden und er wollte einen Schlusspunkt hinter sein ach so verpfuschtes Leben setzen! Da habe ich wohl größten Erklärungsbedarf – und kaum Argumente, dies zu widerlegen! Ich werde für den Rest meines Lebens mit diesem schäbigen, beschämenden Stigma behaftet bleiben!
Hier in dieser Fruchtblase Intensivstation war ich abgekapselt – doch nun begriff ich endgültig, dass nichts mehr so sein werden würde, wie in meinem bisherigen Leben. Jetzt wusste ich auch, dass ich mit einem Schlag eine - naja - unrühmliche Berühmtheit wurde. Ich wohne in einem kleinen Dorf – nicht mal 2000 Einwohner hat Reichenau – und da verbreitet sich so eine tragische Nachricht natürlich wie ein Lauffeuer. Ich wurde sozusagen über Nacht das Ortsgespräch. „Hast du schon gehört? … Oh wie furchtbar … gerade der Andi… was ist da geschehen…warum und wie konnte er nur …?!“ Um Himmels Willen, wie schrecklich musste das für meine Angehörigen sein, all die Mutmaßungen und Gerüchte, das Getuschel der Leute! In meiner Arbeit gab es auch nur ein Thema… Später habe ich erfahren, dass die Direktion sogar kurzfristig ein Kriseninterventionsteam einberufen hatte.
Dabei wollte ich mich doch gar nicht umbringen – nie – never ever!!! Ja, das Donnerwetter in meinem Kopf war nicht mehr auszuhalten, die Sorgen und Probleme schienen mich zu zermalmen – und ich hatte panische Angst, mein Leben zermürbende Angst, Todesangst – aber VERDAMMT NOCH MAL: ICH WOLLTE LEBEN!!! Ich wollte wieder ein normales Leben führen, ohne all die von mir entfachten Flächenbrände, ohne die erlittenen tiefen seelischen Schnittwunden, ohne diese Unmengen an Problemen, ohne diese beschissenen Depressionen!
… Ich wollte niemanden verletzen und habe mich dabei selbst am allermeisten verletzt!!!!!
Als die Schwester Stunden später etwas schüchtern wiederkam, habe ich sie angesprochen und ihr erzählt, dass ich ihre Frage nicht beantworten könne. Ich weiß nicht, warum ich gesprungen bin, ich habe keine Erinnerung daran, wollte das alles nicht! Ihr war es augenscheinlich noch immer sehr unangenehm, sie nickte, doch so richtig glauben wollte sie mir nicht.
Wie sollte ich das nur der Außenwelt beibringen???
Nach nur drei Wochen bin ich gezeichnet vom Muskelschwund – der Kreislauf ist im Keller – jede kleine Bewegung fällt schwer. Als ich meinen Oberarm betrachtete, erschien es, als hätte sich mein Bizeps mehr als halbiert. Am Brustkorb zeichneten sich meine Rippen deutlich ab (mein Körpergewicht war unter 70 Kilo gesunken – ich hatte also innerhalb kurzer Zeit mehr als zehn Kilo an Körpergewicht verloren!). Meine Augen waren in den Augenhöhlen versunken, die Haut dünn, blass und fahl, mein ganzer Körper blutleer, ausgelaugt, entkräftet.
Die Bilder des auf einen Stuhl fest geschnallten Tennisidols Thomas Muster, der nach seinem Unfall im Jahr 1992 trotz seines Gipsbeines den Ball übers Netz knallte - neben ihm liegen die Krücken – waren in meinem Kopf. Da lag ich nun, schwerst ramponiert – und doch dachte ich an mein „Comeback“ und hatte den innerlichen Drang, sofort damit zu starten, obwohl ich starke Schmerzen verspürte und mich kaum bewegen konnte. Ich erkundigte mich beim Pfleger Norbert, was ich tun könne und nach erstmaligem Abwimmeln erklärte er mir, er werde mal mit den Ärzten und den Physiotherapeuten des Hauses sprechen.
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