Doch neben dieser High-Tech-Überwachung tat es einfach nur gut, wenn jemand bei mir im Raum war. In den langen Nächten sehnte ich mich so sehr nach menschlicher Nähe, hatte ich doch so große Angst vorm Alleinsein. Sogar über das Erscheinen der Putzfrauen, mit Putzfetzen und Wischmob ausgerüstet, konnte ich mich freuen. Ich kannte keine der Schwestern und keinen der Pfleger persönlich, doch alleine die Anwesenheit gab mir ein Gefühl der Geborgenheit. Sie strahlten eine in dieser Form noch nicht empfundene Herzlichkeit und Wärme aus. Oft saß jemand neben mir und hielt nur meine Hand. Alleine diese Berührungen sorgten für Entspannung – es war, als fließe ein Energiestrom in mich.
So richtig in Panik geriet ich einmal, als ich eines Abends (oder war es am Vormittag? Spielt auch keine Rolle, da kaum ein Unterschied für mich erkennbar war) merkte, dass die Luft langsam immer dünner wurde und der Respirator ein komisches Brummen von sich gab. Vorerst dachte ich, es würde eh alles überwacht und gleich würde jemand kommen, um den scheinbaren Defekt zu beheben. Als nach einiger Zeit aber nichts von einer Pflegekraft zu sehen war, und ich schon kräftig versuchte, Sauerstoff aus dem Geräteschlauch zu saugen (als ob man mit dem Strohhalm den Rest des Vanilleeises aus dem Eiskaffee saugen möchte!), drückte ich doch schon etwas nervös den roten Alarmknopf der Fernbedienung. Die Minuten vergingen - keiner ist gekommen. Was sollte ich nur tun? Mit dem Beatmungsschlauch im Rachen konnte ich natürlich nicht um Hilfe rufen, geschweige denn einfach so rausspazieren und einen der Herrschaften bitten, mir die lebensnotwendige Luftzufuhr wieder zu verschaffen. In meiner Angst nahm ich den halbvollen Trinkbecher und klopfte so fest ich konnte gegen das Tablett. Sollte ich, nachdem ich den Todeskampf nach dem Unfall wohl für mich entschieden habe, nun an einem Defekt der Beatmungsgeräte auf der Intensivstation zugrunde gehen? Ersticken statt dem Polytrauma zu erliegen? Nach einer gefühlten Ewigkeit schlenderte dann doch endlich einer der Pfleger in mein Zimmer. Der Trinkbecher ist mir in dem Moment aus der Hand geglitten, kullerte über den Zimmerboden und das Mineralwasser spritzte Markus entgegen. „Ja, was ist denn da los? Das mag ich gar nicht, wenn wer so einen Wirbel schlägt!“ Hastig deutete ich auf meinen Mund, um anzuzeigen, dass die Luft immer dünner wurde. Ich dachte, ich müsse ja schon ganz blau im Gesicht sein und allein der Anblick müsste bei Markus die Alarmglocken läuten lassen. „Hoppla, da ist ja was locker.“ Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich, wie er hinter mir am Beatmungsapparat umherwerkelte. „So, jetzt müsste es wieder funktionieren.“ Als hätte ich gerade zwei Längen im Schwimmbecken durchgetaucht, schnappte ich nach Luft. Langsam erholte ich mich wieder und ich wollte Markus in dem Moment anschreien und ohrfeigen - beides war mir nicht möglich. Den Angstschweiß noch auf der Stirn, gab ich ihm mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass der Sauerstoff jetzt wieder in ausreichender Menge meine Lunge speiste. Er wischte noch schnell das Wasser aus dem Trinkbecher vom Boden auf und als wäre nichts gewesen, verließ er, ein Liedchen trällernd das Zimmer.
Tage später – ich wurde in der Zwischenzeit vom Beatmungsgerät befreit – habe ich den Pfleger Markus auf die für mich so bedrohlich wirkende Situation angesprochen. Er war ziemlich überrascht und meinte, es könne eh nichts passieren, da das Beatmungsgerät mit einem Sicherheitsmechanismus ausgestattet sei, der sich rechtzeitig aktiviere. Nun, das war mir im Nachhinein auch kein Trost mehr. Markus gab aber zu, er habe die Situation verkannt… „Sorry!“
Die Normalwerte der Sauerstoffsättigung liegen im Bereich von 97 bis 100 Prozent. Als behandlungsbedürftig gelten Werte von etwa 90 Prozent und weniger. Sehr kritisch wird es ab einem Wert von 85. Die Sättigung bei mir lag meist zwischen 84 bis 94 Prozent. Nach Entwöhnung vom Respirator wurde mir deshalb Atemtraining zum Aufbau der Lunge verordnet: Eine Gummimaske wurde über Mund und Nase gespannt, welche einen leichten Widerstand beim Atmen erzeugte. Ich verfiel jedes Mal in Platzangst und zählte die Minuten auf der vor mir hängenden großen Uhr. Mindestens eine halbe Stunde sollte eine Behandlung dauern, um den gewünschten Effekt zu erzielen und das ganze zwei- bis dreimal täglich. Danach war ich jedes Mal schweißgebadet, als hätte ich einen Marathon in der Sauna absolviert. Zusätzlich zum Atemtraining musste ich einen dünnen Schlauch um meinen Kopf tragen (das kennt man aus diversen Arztfilmen), der reinen Sauerstoff direkt in meine Nase strömen ließ. Dieser erzeugte ein unangenehmes Gefühl in meinen Atemwegen, die Nase schien komplett ausgetrocknet zu sein und ständig musste ich schlucken. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die Luft nach Petersilie roch und ich hatte immer einen ekeligen Geschmack im Mund. Manchmal in der Nacht habe ich den Schlauch einfach raus gezogen um besser schlafen zu können (von gut oder besser schlafen kann ich eigentlich nicht reden – ich denke nach dem Erwachen aus dem Koma habe ich während der Zeit des Intensivstationsaufenthaltes nie länger als vielleicht 3 Stunden am Stück durchgeschlafen!), was mir eine Schelte der Nachtschwestern einbrachte. Wegen der fiebrigen Lungenentzündung war ich komplett verschleimt. Diese Unmengen an zähen, milchig-weißen Schleim sollte ich so gut wie möglich durch Husten lösen. Leichter gesagt als getan, da das Husten so sehr schmerzte und ich zu kraftlos war. Irgendwie versuchte ich diesen lästigen Schleim rauf zu würgen - dabei musste ich mich übergeben…
Ja, das war schon sehr, sehr heftig!
An der Wand direkt vor meinem Bett hängten zwei Fotos. Eines zeigte Celina beim Gitarre spielen und das andere war ein Kindergartenfoto von Fabienne. Meine geliebten Schätze – die beiden fehlten mir so sehr. Und sie taten mir leid, wussten sie ja nicht, was da Schreckliches mit ihrem Vater geschehen war. Häufig übermannten mich die Gefühle und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Norbert setzte sich zu mir, als er einmal merkte, wie sehr es in mir arbeitete, ich mich krümmte und es mich zusammenzog, mein Gesicht verzweifelt vor lauter Sehnsucht nach den beiden. „Komm Andi, es ist gut so, lass es einfach raus. Es tut gut zu weinen.“ Mit einer Hand hielt er meinen Arm, mit der anderen strich er mir durch die Haare. Sein trauriger Blick ruhte auf den Fotos. Auch seine Augen wurden feucht.
Zudem hängte daneben auch ein von Celina gezeichnetes Bild. Es zeigt eine Feenprinzessin mit einem Zauberstab. Bunt bemalt und in ihrem unverkennbaren Stil. Sie hat wirklich Talent. Darunter stand in großen Buchstaben: „Ich zaubere Dich Gesund!“
Celina, 8 Jahre
In den unendlichen stillen Stunden lag ich da, starrte auf die Bilder und begann zu schluchzen. Durch das Schluchzen hindurch hörte ich eine zarte Stimme. Es war meine innere Stimme, die Stimme, die mich am besten kennt, doch die lange Zeit verstummt war. Niemand kann dir helfen, um die Lage ganz zu ändern. Niemand kann dich retten. Niemand kann dich da rausziehen. Niemand! Außer du selbst! Es ist deine Sache. Suche einen Weg und finde deine Stärke! Ich erkannte, dass ich, solange ich das Opfer blieb, auch meine Familie und Freunde zu einem Opfer machte. Meine Angst war auch ihre Angst. Meine Probleme auch ihre Probleme. Mein Sturz hat auch sie mitgerissen. Ich war am wichtigsten Scheideweg angekommen. Ich konnte beschließen, das Leben als elendiges, bedauernswertes, jämmerliches Stück Etwas weiter zu führen – dies wäre kein Leben, das wäre gleich zu setzen mit dem Ende. Oder ich konnte beschließen mein Leben zu leben! Nein, ich gebe nicht auf – ich werde weiterkämpfen – für meine Lieben, für mich!
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