»Viel Spaß in Kanada!«
Die Verbindung brach endgültig zusammen und es war nur noch ein Rauschen zu hören. Was für ein Abschied.
Ich legte das Handy auf den Küchentisch zurück und starrte noch einige Minuten hinterher. Tausend Fragen hämmerten von innen gegen meine Schädeldecke. Wollte Thomas wirklich nur, dass ich mich erhole? Wollte er mich vielleicht loswerden, weil ich ihn nervte? Ich würde bei allem genervt reagieren. Das hätte er mir doch eher sagen können, wenn es ihn störte. Mein Herz schlug schneller und langsam kroch Panik meinen Hals hinauf. Das war das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich länger als einen Tag von Thomas getrennt sein würde. Ich fühlte mich hilflos, überfordert und einsam. Meine Finger trommelten auf den Küchentisch. Warum war ich bloß so nervös? Ich würde morgen zur Arbeit gehen, meine Koffer packen, nach Kanada fliegen, mich eine Woche lang in der Hütte langweilen, zurück fliegen und wieder mit Thomas zusammen sein. Das konnte mir gar nicht schnell genug gehen. Ich vermisste ihn jetzt schon. Selbst den Kuss auf meine Stirn sehnte ich mir nun herbei.
Nein, ich würde jetzt nicht anfangen zu heulen. Ich wischte mir schnell die Träne von der Wange. Das wäre jetzt wirklich kindisch gewesen: mit zwanzig Jahren am Küchentisch sitzen und heulen, weil man eine Reise geschenkt bekommen hatte, aber der Freund sich nicht verabschieden konnte.
Ich stand auf und zupfte meinen Schlafanzug zurecht. Da ich nicht länger auf Thomas warten musste, ging ich ins Bett, damit ich einigermaßen fit für den letzten Arbeitstag war. Ich schloss die Vorhänge und kletterte ins Bett unter die Decke, die ich mir wie immer bis über die Ohren zog. Vom Gesicht war nur so viel frei, dass ich noch atmen konnte. Warum konnte ich nicht einfach hier Urlaub machen? Unter meiner Bettdecke im Snoopy-Schlafanzug. Man könnte mir mein Essen ans Bett bringen und als Cocktail würde ich eine heiße Milch mit Honig nehmen.
Langsam wurden meine Augenlider immer schwerer und die Welt um mich herum begann zu verschwimmen. Die leuchtend roten Zahlen auf meinem Wecker konnte ich nicht mehr erkennen. Das dumpfe rote Licht wechselte allmählich in ein helles Blau. Ich kniff die Augen zusammen, weil es mich blendete. Ich roch wieder den Flieder und spürte die warme Sonne auf meiner Haut. Ich blinzelte vorsichtig. Um mich herum blühte es in allen Regenbogenfarben. Was machte ich hier? Ich war schon einmal hier gewesen. Mit Thomas. Im Hochzeitskleid. Aber als ich an mir herunterschaute, hatte ich immer noch den Schlafanzug an. Plötzlich zuckte ich zusammen. Kalte Schweißperlen bildeten sich in meinem Nacken. Letztes Mal waren wir nicht allein gewesen.
Der Wolf!
Ich drehte mich um, blickte in alle Himmelsrichtungen, aber ich konnte niemanden sehen. Weder Mensch, noch Wolf. Erleichtert ließ ich mich zurück auf den Rasen fallen. Er war federweich. Ich sank ein wenig ein, wie in Berge aus weichen Kissen. Meine Hände glitten über das Gras und meine Finger spielten mit den Blüten der Blumen. Alles war so wunderbar weich. Die Vögel zwitscherten von den Bäumen herab und sangen ein fröhliches Lied. Niemals würden sie etwas anderes singen, denn sie sangen nur für mich.
Ich atmete tief ein und schmeckte fast den Flieder auf meiner Zunge. Die Sonne lud meine leeren Akkus wieder auf, ich fühlte mich mit jeder Sekunde erholter und zufriedener. Stundenlang hätte ich hier liegen und mit den Blumen spielen können.
Als ich meinen Kopf zur Seite drehte, sah ich sie. Am Rand der Wiese zwischen zwei Bäumen saß die schwarze Gestalt. Die himmelblauen Augen fixierten mich. Wie lange hatte der Wolf schon dort gesessen und mich beobachtet? Langsam richtete ich mich auf, in der Erwartung, er würde mich gleich angreifen, wie er es auch bei Thomas getan hatte, doch der Wolf blieb ohne jegliche Regung sitzen. Kein Zähnefletschen. Kein Knurren.
Ich setzte mich in den Schneidersitz und wartete ab. Den Wolf behielt ich jede Sekunde im Auge. So saßen wir da und schauten uns an. Ich hatte Zeit, ihn etwas genauer zu betrachten. Sein Fell war ganz glatt und glänzte in der Sonne. Es sträubte sich nicht wie bei unserer letzten Begegnung. Bei dieser Wärme hätte er eigentlich hecheln müssen, aber das tat er nicht, als würde er die Sonne nicht spüren. Sein Blick ruhte ganz friedlich auf mir. Die himmelblauen Augen waren wirklich wunderschön. Sie hatten etwas Sanftmütiges, etwas Vertrautes in sich. Ich hätte in ihnen versinken können.
Eine gefühlte Ewigkeit tauchte ich in seinem Blick ab und merkte plötzlich, dass ich lächelte. In diesem Augenblick war jegliche Angst verflogen. Meine Unsicherheit war verschwunden und ich fühlte so etwas wie Frieden. Lag es an ihm? Oder lag es an der Sonne und dem Rasen, nach denen ich mich nach dem langen Winter gesehnt hatte?
Der Wolf legte seinen Kopf schief. Das kannte ich von Hunden, wenn sie etwas zu fressen haben wollten, aber die Bewegung des Wolfs sah wesentlich anmutiger aus, fast schon elegant.
Als er sich vollständig erhob und nun in voller Größe vor mir stand, wich ich ein Stück zurück. Er war so riesig. Gleich würde er mich anspringen. Aber er tat es nicht. Er drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Ich überlegte kurz, ob ich ihm folgen sollte, doch er blickte nicht zurück, um mich dazu aufzufordern, also blieb ich sitzen, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.
Ich schaute zum Himmel und beobachtete die wenigen Schleierwolken, die über mir hinwegzogen. Nach einiger Zeit schloss ich die Augen, um die warme Sonne auf meinem Gesicht besser genießen zu können. Langsam wurde es dunkler und das grelle Blau des Himmels färbte sich rot. Ein dunkles Rot, das immer heller wurde.
7:45 Uhr.
Oh nein! Ich hatte verschlafen!
Ich bin frei geboren, frei wie der Adler,
der über den großen blauen Himmel schwebt;
ein leichter Wind streift sein Gesicht.
Ich werde frei sein.
»Zum Flughafen, bitte!«
Ich saß bereits im Taxi, als Lisa neben mir Platz nahm und dem Fahrer mit dem breiten Grinsen, das sie schon den ganzen Tag über hatte, unser Ziel nannte.
Sie hatte sogar in der Mittagspause eine Liste zusammengestellt, was ich alles mitnehmen müsste. Etwas für kalte Tage, etwas für warme Tage, etwas für regnerische Tage. Nicht zu vergessen Wanderstiefel und einen Rucksack für den Proviant. Ich nickte immer nur bereitwillig und ließ ihre Urlaubsvorbereitung über mich ergehen.
Meine Bitte, den Laptop noch auf die Liste zu setzen, verwarf Lisa mit einem lauten Lachen. »Was willst du damit? Wir wohnen praktisch in der Wildnis. Internet gibt es dort nicht. Wir haben gerade mal ein Satellitentelefon.«
Das klang ja hervorragend. Nicht einmal Internet gab es, um vielleicht eine E-Mail schreiben oder sich von der Einöde ablenken zu können.
»Aber Strom und heißes Wasser haben wir?« Die Frage war für mich gar nicht so abwegig.
»Natürlich, was denkst du denn?«, Lisa verdrehte die Augen. »Nur weil wir abgelegen von größeren Städten und Dörfern wohnen, landen wir nicht gleich im letzten Jahrtausend.«
Für mich schien alles möglich zu sein. Kein elektrischer Herd oder Ofen sondern eine kleine Feuerstelle, bei der wir Nachtwache halten müssten, damit das Feuer nicht ausging. Als Toilette würde es draußen ein altes Plumpsklo geben und waschen müsste man sich in einem kleinen, eiskalten Bach, der neben der Hütte floss. All das belachte Lisa nur und tadelte mich, ich hätte eine zu lebhafte Fantasie.
Nachdem ich meine Koffer gepackt hatte, versuchte ich noch ein Mal Thomas zu erreichen, aber es ging nur die Mailbox dran. Der Arme war anscheinend wirklich sehr beschäftigt. Ich schrieb ihm eine SMS, dass ich reisefertig sei und mich auf den Urlaub freute und dass ich ihn liebte und vermisste. Auch wenn es gelogen war, dass ich mich freute, aber so konnte ich ihn wenigstens beruhigen, dass es mir gut ging.
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