»Willst du meine Trauzeugin sein?« Wen sonst außer Lisa sollte ich fragen? Ich hatte in Hamburg keine weiteren Freunde und sie war mir wichtig. Sie sollte an meinem großen Tag dabei sein.
Lisa rutschte die Brille ein Stück herunter und ihre Stirn legte sich wieder in Falten. Die Frau Lehrerin. Kurz kamen mir Zweifel, ob ich gerade das Richtige gefragt hatte, aber da rannte Lisa schon um den Schreibtisch herum und umarmte mich. Sie erdrückte mich fast. Weinte sie?
»Oh Mia … dass du mich fragst. Ich freue mich riesig. Natürlich will ich. Natürlich will ich meine Freundin an ihrem Hochzeitstag begleiten! Was für eine Frage!« Sie weinte tatsächlich. Zum Glück vor Freude. Als ob ihr jemand einen Heiratsantrag gemacht hätte.
»Ich kann mir keine bessere Trauzeugin vorstellen als dich.« Diese Worte kamen aus meinem tiefsten Herzen. Ich hatte Lisa lieb gewonnen und auch sie wollte ich für den Rest meines Lebens nicht mehr hergeben.
Lisa trat einen Schritt zurück und beäugte mich nachdenklich. Ihr Lachen war plötzlich verschwunden. Sie dachte über etwas nach, das konnte ich ihr an der Nasenspitze ansehen. Was war auf einmal mit ihr los? Eben freute sie sich wie ein kleines Kind und jetzt? Jetzt starrte sie mich an, als ob sie versuchte, meine Gedanken zu lesen.
Langsam fand Lisa ihr Lächeln wieder. »Mia, Liebes, ich habe eine Überraschung für dich. Eigentlich sollte es als Ablenkung dienen oder als Erholung, was auch immer. Aber nun kann es auch als Junggesellinnenabschied genommen werden.«
Ich ahnte Schlimmes. Grausame Kostüme, ein Bauchladen gefüllt mit Schnaps und Sexspielzeug, das ich auf der Reeperbahn verkaufen musste.
»Tadaaa!«, Lisa wedelte mit einem Briefumschlag vor meiner Nase herum. Gott sei Dank. Kein Kostüm, keine Vibratoren.
Vorsichtig öffnete ich den Umschlag. »Flugtickets? Nach Calgary? Hast du im Lotto gewonnen?« Das musste ein Scherz sein. Lisa hätte sich solche Tickets nie im Leben leisten können. Auch wenn sie viel reiste, sie bekam das Geld gerade so zusammen, dass es für sie alleine reichte.
»Nee, hab’ nichts gewonnen. Ich habe dir doch von Jan erzählt, meinem Bruder, der in Kanada wohnt.« Ich nickte. Sie flog sehr oft nach Kanada, um ihn zu besuchen. Anfangs war er in die USA ausgewandert und lebte nun irgendwo im Westen Kanadas. Mehr wusste ich aber auch nicht. »Ihm gehört eine dieser Mall-Ketten«, erzählte Lisa weiter. »Du weißt schon: diese großen Einkaufspassagen, die es in den USA überall gibt. Er verdient also nicht gerade wenig. Jan hat mich gefragt, wann ich ihn wieder besuchen kommen möchte. Er wollte mir einen Flug schenken, aber ich habe gesagt, dass ich nur mit meiner Freundin komme. Also hat er uns zwei Tickets geschenkt. Ist das nicht super? Ich dachte, da du den Kopf gerade voll hast mit der Hochzeit, Thomas und der Arbeit, würde dir ein wenig Abstand gut tun. Freust du dich gar nicht? Wenn du willst, dann nimm es als Hochzeitsgeschenk. Wobei, ich hab es ja selbst geschenkt bekommen. Dann nimm es einfach als kleine Geste deiner Trauzeugin an.«
Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich mich freuen oder eher Panik bekommen? Jetzt, vor der Hochzeit noch nach Kanada fliegen? Es mussten so viele Vorbereitungen getroffen werden.
»Wie lange würden wir bleiben?« Neugierig war ich dennoch.
»Solange du möchtest. Allerdings müssen wir von Calgary noch ein Stück mit dem Auto fahren. Wir treffen uns in seiner Ferienhütte in den Bergen mit ihm. In den Rocky Mountains. Mia! Die Rocky Mountains!« Lisa verfiel in einen Freudentanz, der mich langsam aber sicher positiver stimmte.
Kanada, Rocky Mountains. Ja, das klang wirklich super. Aber der Zeitpunkt passte nicht.
»Thomas habe ich schon eingeweiht. Er weiß Bescheid und hat nichts dagegen. Er fand die Idee gut, dass du dich vor den Hochzeitsplanungen noch einmal entspannen kannst.«
»Du hast es Thomas vor mir gesagt? Soll das eine Verschwörung gegen mich werden?« So viel zu meinen Plänen für die Zukunft, damit mich nichts überraschen konnte. Sicher hatten die beiden miteinander telefoniert, als ich in der Badewanne lag. Oder Thomas wusste es schon länger und hat es mir die ganze Zeit verschwiegen.
Lisa stoppte ihren Freudentanz. »Mia, Liebes. Es war nicht böse gemeint. Es sollte eine Überraschung sein. Außerdem: Einem geschenkten Gaul – du weißt schon.«
»Schöner Gaul«, ich setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl, verschränkte die Arme und schmollte. »Wann soll es denn los gehen?«
Lisa schaute auf ihre Füße. Wie ein kleines Schulmädchen, das etwas ausgefressen hatte, beichtete sie flüsternd: »Übermorgen.«
»Übermorgen?« Ich sprang auf und stemmte meine Fäuste in die Seiten. Pah! Von wegen Hafenrundfahrt! Thomas hatte sich das also nur ausgedacht, um mich an der Nase herumzuführen.
Mir fielen viele Argumente ein, nicht zu fliegen, die ich Lisa allesamt an den Kopf warf, aber sie zerschmetterte jedes Argument mit einem Gegenargument. Sogar unsere Projekte hatte sie bereits an andere Kollegen verteilt. Der Urlaub war auch schon vom Chef genehmigt, wobei sie mir den genauen Zeitraum, der genehmigt wurde, nicht verraten wollte. Vielleicht stand Herr Riedberg auf Lisa. Ansonsten hätte er das niemals abgesegnet. Nicht, wenn dermaßen viel Arbeit vorlag. Vielleicht war es ihre unkonventionelle Art, die er mochte, auch wenn er es immer abstritt. Auf jeden Fall musste sie das schon länger geplant haben. In dieser Firma bekam man nicht von einem Tag auf den anderen einfach frei. Mir kam das alles komisch vor. Angefangen mit Lisas Idee, bis hin zu ihrer Planung hinter meinem Rücken. Was hatte sie nur vor mit mir?
Erschöpft sank ich zurück auf meinen Stuhl. Das hatte ich nicht geplant. Ich konnte jetzt nicht weg. Ich musste heiraten! Die Hochzeit musste geplant werden. Kanada kam in meinen Plänen nicht vor.
Mir schwirrten wieder unzählige Gedanken im Kopf herum. Dabei wollte ich doch nur eines: Endlich einmal nichts denken müssen.
Ich seufzte.
»Gibst du auf?« In Lisas Stimme klang etwas Triumphales mit. »Gibst du auf und kommst mit mir nach Kanada?«
Ich hob den Kopf und massierte meine Schläfen. »Na schön. Ihr habt gewonnen. Eine Woche. Keinen Tag länger.«
Lisa stürmte auf mich zu und drückte mich gegen ihren Bauch. Wäre sie molliger gewesen, wäre ich erstickt. »Das wird toll! Ich freue mich. Wir haben schon lange nichts mehr miteinander unternommen und jetzt fliegen wir nach Kanada! Es wird dir gefallen!«
Lisa war von nun an gar nicht mehr zu stoppen. Sie redete wie ein Wasserfall von der Natur dort, von den Bäumen, den Bergen, den Tieren.
»Ich hasse Überraschungen.« Mehr hatte ich dazu nicht zu sagen.
•••
»Was fällt dir ein, über meinen Kopf hinweg solch eine Entscheidung zu treffen?« Ich war richtig wütend und knallte die Wohnungstür hinter mir zu, aber Thomas war nicht da. Ich erinnerte mich, dass er gesagt hatte, es könne später werden. Nun gut. Also musste ich meiner Wut auf einem anderen Weg Luft machen.
Ich zog meine Joggingklamotten an und rannte in den Park gegenüber unseres Häuserblocks. Ja, ich rannte. Die Luft war zum Glück nicht mehr so kalt, dass sie beim Atmen schmerzte, aber da ich schon lange nicht mehr gelaufen war, bekam ich schnell Seitenstiche. Ich ignorierte sie und rannte Runde um Runde im Park.
Auf dem kleinen Teich schnatterten die Enten, in der Hoffnung, jemand würde sie mit Brot füttern. Das taten die meisten Spaziergänger auch, trotz des Schildes »Enten füttern verboten«.
Ein junges Mädchen ging mit ihrem Hund Gassi. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass wohl eher der Hund mit ihr spazieren ging. Sie musste ihr gesamtes Gewicht gegen die Leine stemmen, damit der Hund nicht davon raste. Der Hund tat mir leid. Er wollte gerne laufen, aber das Mädchen riss ihn jedes Mal an der Leine zurück. Er musste sich wie ein Gefangener fühlen. Seinen eigenen Instinkten nicht folgen zu können – nicht folgen zu dürfen.
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