Alice Berend - Dore Brandt
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Alice Berend
Dore Brandt
Dore Brandt
Der Zug eilte auf geradem Wege seinem Ziele entgegen. Rücksichtslos durchschnitt er in tiefer Furche die zarten Gewebe der Dämmerung, die geheimnisvoll über das flache Land glitten, Nahes wie Fernes verhüllend.
Dore stand an dem geöffneten Fenster und blickte in die Abendschatten, hinter denen immer häufiger verschwommene, gelbe Lichtflecken die Nähe von menschlichen Wohnstätten verrieten.
Die stille, schwere Luft verkündete die nahende Großstadt. Wie beklemmend sie wirkte, wenn man eine Zeitlang am Meere geatmet hatte. Hier brachte auch der Abend nicht den kühlenden Frieden. Schon fühlte man wieder das Zerren der Nerven, die sich spannten und dehnten, um im engen Kampfgewühl nach Lebensfreude und Erfolg zu greifen.
Welch ein großes Stück Zeit schien zwischen dem Morgen von Heute und dem Jetzt zu liegen. In dem frischen, wilden Wind, der pfeifend das schäumende Meer gegen die Küste peitschte, hatte sich Dore jauchzend als freier Mensch gefühlt. Groß, stark, unbesiegbar von Leid. Hier vor der regungslosen, stauberfüllten Luftwand hatte sie die Empfindung, sich als überflüssiges Etwas in einen überfüllten Riesenkasten zu drängen, wo niemand sie wünschte, keiner ihrer achtete noch bedurfte und eigentlich gar kein Platz für sie vorhanden war.
Sie erbebte, als der Zug die Geschwindigkeit verringerte und langsam in die hellerleuchtete Halle einfuhr.
Aber in dem blinden Lärm der schreienden, rufenden, drängenden Menge, der von dem stoßweisen Pusten der atemlosen Lokomotive überfaucht wurde, fand Dore sich wieder.
Und als sie in dem raschen Wagen neben den klingelnden elektrischen Bahnen durch die schmale, lärmende, stimmenerfüllte Friedrichstraße fuhr, erfaßte sie ein starkes Gefühl der Freude. Sie. spürte in dem tosenden Leben berauschend die eigene Jugend und Kraft.
Der Wagen ließ Lärm und Helle hinter sich und fuhr unter dem spätsommerlichen Laubdach des Tiergartens dahin: Gemächlich, gleichmäßig klappten die Hufe des Pferdes auf dem Asphalt.
Dores Gedanken glitten nach dem Elternhause, das auch ein Punkt dieser weiten Stadt war und doch für Dore in brückenloser Ferne lag. Drei Jahre waren es nun her, daß sie die Tür des Vaterhauses hinter sich geschlossen hatte. Drei Jahre der Arbeit und des Alleinseins.
»Wählet Die Schaubude oder das Vaterhaus,« hatte der Vater ohne Bedenken, ohne Eingehen auf Dores ernste Worte blindlings geschrien. »Die Tochter eines Offiziers als Gauklerin ist noch nicht Sitte.«
»O, hätte ich dich nie geboren«, hatte die sinnlos verängstigte Mutter geschluchzt.
Diese geliebte, kleine Mutter, die zitternd und sparend neben dem heftigen Satten immer und immer selbstvergessen »repräsentieren« mußte.
Niemand ahnte, wieviel Herzblut Dore dieser Abschied vom Elternhause gekostet hatte. Wie sie in den ersten Tagen immer wieder zur Tür zurückgeschlichen war. Aber weil sie Stand gehalten hatte, glaubte sie an sich und ihre Kunst. Obgleich sie lernen mußte, wie steil der Weg zum Erfolge war.
Der Wagen hielt mit gelindem Ruck, er war am Ziel der Fahrt.
Da flammten wieder die runden Bogenlampen des Bellevue-Bahnhofes, dort ging die neue, breite Brücke über die Spree. Alles war noch am Platze.
Dore sah an dem hohen, grauen Hause hinauf. Eines der vielen Fensteraugen dort oben war der Ausguck des kleinen Zimmers, wo über ihrem Bett die liebe Holbeinsche Madonna hing.
Sie stieg frisch die Treppen empor, gefolgt von dem Droschkenkutscher, der, ihr Reisegut auf den Rücken geladen, die Höhe erklomm. Nun stand sie vor der Tür, an der neben dem weißen Porzellanschild: »Amalie Klinkert« die schmale Visitenkarte: »Dore Brandt« befestigt war.
Frau Klinkert öffnete. Hochrot im Gesicht, die Ärmel ihrer roten Bluse bis über die Ellenbogen ihrer fleischigen Arme zurückgestreift. Von dampfendem Seifengeruch umhüllt.
»N' Tach, Freileinchen. Jlicklich anjelangt? Jehn'n Se bitte rein und zinden Se sich de Lampe an, ick hab' nasse Pfoten, große Wäsche. Unsereins muß ja bis in de Nacht schuften.
N' Brief liegt uff'n Tisch un noch een blaues Heft, wat der Theaterdiener jebracht hat«, schrie sie dann noch aus der Küche heraus. –
Eine Weile darauf saß Dore allein vor der brennenden Lampe, die so gerückt war, daß ihr Licht hell auf den Holbein fiel.
Noch in Hut und Mantel hatte Dore die Rolle aufgerissen, die der Theaterdiener gebracht hatte. Ein dünnes Heft nur, aber Dore war doch froh. Nun konnte sie also schon morgen früh zur Probe gehen und brauchte nicht sehnsüchtig, um das Theater zu streichen.
Nachdem sie es sich gemütlich gemacht hatte, las sie den Brief von Hans Jäger. Natürlich wieder viel Seiten voll Liebeserklärungen in schwülstigen Wendungen und blumigen Wortspielen. Das war sie gewohnt. Einmal nannte er sie Judith und sich Holofernes, ein andermal wieder verglich er Dore mit einer Rose und sich mit einem Mistkäfer.
Sie entbehrten niemals der Komik, diese Briefe des guten Hans Jäger.
Sie las bedächtig die engbeschriebenen Seiten, während sie von Zeit zu Zeit kräftig in die dicke Landbrotschnitte biß, die von Bornholm mit gereist war und nun ihr Abendbrot bildete.
Am Schluß des Briefes stand in großen Buchstaben, dick unterstrichen: »Meine Seele blüht, lassen Sie sie nicht verdorren.« Dore lachte aus vollem Halse, denn diese ungeschickte Redewendung erinnerte sie an den Reklamezettel, der heute in das Abteil geworfen wurde: »Sie Heide blüht, das sollte jeder sehen.«
Mit dem Briefe war auch das Butterbrot zu Ende. Dore ging zum Fenster und blickte hinaus. Von der nahen Kaiser-Friedrich-Kirche schlug es zehnmal. Es war still auf der Straße, und wenn einmal kein Stadtbahnzug zum Bahnhof hinein oder herausrasselte, konnte sie die Bäume des nahen Tiergartens rauschen und raunen hören.
Dore beugte sich weit zum Fenster hinaus.
Da unten floß die Spree. Ein großer Apfelkahn lag an der Brücke, das rötliche Licht seiner Laterne spiegelte sich im glitzernden Wasser.
Gestern flutete das Meer vor ihren Fenstern, und an der fernen Küste Schwedens blinkte der Leuchtturm von Cimrishamn.
Dore hatte am Hafen gesessen. Das Meer bewegte sich nur wenig unter den funkelnden Sternen. Auf einem schwedischen Schiffe wurde auf der Harmonika ein weiches, heimatliches Lied gespielt.
»Wer seine Heimat so lieben könnte wie diese Schweden«, sagte eine Männerstimme neben ihr. Sie sah auf. Sie hatte den Sprecher täglich gesehen. Er wanderte viel allein für sich umher, und Dore war ihm oft begegnet.
Aber sie hatten niemals miteinander gesprochen, und Dore kannte nicht seinen Namen.
»Hat Ihr Herz eine Heimat?« fragte der Fremde nach einer Weile, in der beide schweigend dem Liede gelauscht hatten.
»Nein und ja«, erwiderte Dore langsam. »Meine Heimat ist eine nüchterne, unpersönliche Stadt, und doch – es gibt dort vor dem Tore einen Kiefernwald, kahl – sandig – aber mit schilfumwachsenen stillen Seen – ich glaube, ich liebe meine Heimat.«
Nach einigen Minuten zog der Fremde seinen Hut und ging seines Weges.
Ob er wohl heute wieder am Hafen steht?
Schade, so gar nichts von ihm zu wissen.
Dore schloß die Fenster und zog die Gardinen davor.
Bald erlöschte die Lampe.
Draußen brausten noch lange die Stadtbahnzüge, und die Fensterscheiben klirrten leise. –
»Nu haben wir se wieder uff'n Halse, nu läßte scheen det Fluchen, wenn de Abend nach Hause kommst, vastehste. Sonst kindigt se, un ick kann warten, bis ich wieder fufzig Märker für det Loch ohne Klavier krieje«, sagte draußen in der Küche Frau Klinkert zu ihrem Sohn, während sie einen Bückling mit Haut und Gräten verspeiste.
»Ach wat«, antwortete der Sohn mit vollem Munde, »ach wat, denn krichste vielleicht eene mit 'n Verhältnis, und det is denn ville eindringlicher.«
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