Manu Brandt
Das Licht in deinen Adern
Roman
Für Papa.
Mögen die Engel über das Licht deiner Kerze wachen,
damit wir es jeden Abend als funkelnden Stern
am Nachthimmel wiederfinden.
Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, während er durch das eiserne Tor des Friedhofs trat. Das Gewitter war bereits verstummt, und ein feuchter, kühler Wind wehte über den modrig riechenden Rasen. Seine schweren Stiefel knirschten auf dem nassen Kiesweg, der sich zwischen den Gräbern durchschlängelte. Auf diesem Friedhof gab es kein Grab, das älter als einhundert Jahre war. Er las die eingemeißelten Namen auf den Grabsteinen, an denen er vorbeiging, und fragte sich, welche Geschichten darunter begraben waren. Jeder einzelne Stein wirkte auf ihn wie ein Mahnmal. Ein Stechen durchfuhr sein Herz, als er darüber nachdachte, aus welchem Grund die meisten Menschen dort lagen.
Das Mausoleum war das größte Gebäude auf dem Friedhof. Langsam bäumte sich der weiße Quader, eingesäumt von mächtigen Säulen, vor ihm auf. Er besaß keinerlei Verzierungen, die normalerweise an einer Grabstelle zu finden waren. Es gab keine Kreuze, keine Ornamente, keine Engelsfiguren. In diesem Gebäude existierte Gott nicht.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er schloss fröstelnd den Reißverschluss seiner Lederjacke. Er überlegte, ob er es wirklich wagen sollte, hineinzugehen. Sein Gefühl sagte ihm, er sollte besser nicht dort sein. Nicht an diesem Ort. Nicht mit ihr. Aber er hatte keine andere Wahl. Wenn sie nach ihm rief, musste er gehorchen.
Er lehnte sich gegen die schwere Tür des Mausoleums, die knarrend nachgab. Vor ihm lag ein finsterer Saal. An den nackten Wänden hallte das Echo seiner Schritte auf dem Steinboden wider. Außer dem Kerzenständer, der auf einem steinernen, rechteckigen Block im Zentrum des Mausoleums stand, gab es in diesem Raum nur Dunkelheit.
»Herrin?«, fragte er in die Finsternis hinein. Als Antwort hörte er nur sein Herz, das aufgeregt in seiner Brust schlug. Dabei war er ihr schon Tausend Male begegnet. Doch solch ein Treffen hatte es noch nie gegeben. Und er war sich sicher, dass es besser so hätte bleiben sollen.
Als er in die beleuchtete Mitte des Raumes kam und sich umschaute, trat eine schlanke Gestalt aus dem Schatten heraus. Sie näherte sich langsam dem Lichtkegel der Kerzen. Ihre Haare leuchteten wie Feuer. Ihr Abendkleid erweckte den Eindruck, als bestünde es aus lodernden Flammen, die um ihren perfekten Körper züngelten. Schwarze Augen funkelten ihn an. Das Lächeln war wie eine Waffe, die direkt auf ihn gerichtet war.
Die Frau ging auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Er zögerte, doch schließlich erwiderte er die Umarmung. Was sie wollte, musste sie bekommen. Er spürte, wie ihre Lippen an seinem Hals entlangglitten, um ihn mit zarten Küssen zu bedecken. Als er versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien, drückte sie ihn stärker an sich.
»Warum so förmlich, mein schöner Engel?«, flüsterte sie in sein Ohr. »Wir sind hier unter uns. Niemand sieht uns, niemand kann uns hören.« Ein leises Stöhnen entwich ihr. »Sag meinen Namen.«
»Lilith«, antwortete er mit fester Stimme. Er war ein Krieger. Diese Situation durfte ihn nicht aus der Fassung bringen. Erst recht nicht bei ihr. Dennoch war er erleichtert, als sie ihn endlich freigab und einen Schritt zurückging.
Ihre Hand ruhte an seiner Wange. »Du bist in der Tat der Schönste von allen. Hätte ich meine Treue nicht jemand anderem geschworen, könnte ich bei dir wirklich schwach werden.«
Er hatte schon immer gewusst, dass sie ihn auf eine Art und Weise ansah, wie sie es eigentlich nicht durfte. Schließlich war Lilith die Gemahlin seines Herrn. Genau wie sie hatte auch er ihm die Treue bis in alle Ewigkeit geschworen. Und die Ewigkeit war eine verdammt lange Zeit.
»Warum hast du mich hergerufen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
Ihr Blick wurde ernst und ihr Lächeln verschwand. Während sie sprach, starrte sie gedankenverloren in die flackernden Kerzen, deren Licht tanzende Schatten auf ihr makelloses Gesicht zauberte.
»Du bist wahrhaftig sein bester und treuester Krieger. Lässt dich nicht ablenken. Aus diesem Grunde habe ich dich auserwählt. Ich werde dir einen Auftrag erteilen.«
»Ich erhalte meine Aufträge ausschließlich von …«
»Schscht!« Lilith zuckte zusammen und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Nenne nicht seinen Namen! Dann wird er uns finden. Er weiß nicht, dass ich hier bin.« Sie kam näher an ihn heran, bis ihr Mund beinahe den Zeigefinger berührte. »Er darf von all dem nichts wissen. Ich darf mich nicht einmischen. Aber was soll ich machen?«
Ihr Finger glitt an seinen Lippen entlang und gab ihr den Weg frei, ihn zu küssen. Doch als nur noch ein Hauch Luft sie trennte, trat er zurück und baute seine volle Körpergröße vor ihr auf. Über diese Schwelle zu treten, würde seinen Tod bedeuten.
»Wie lautet mein Auftrag?«
Mit seinem Körper konnte und wollte er ihr keine Befriedigung geben, dennoch musste er ihren Befehlen nachkommen. Lilith zum Feind zu haben, würde bedeuten, dass auch sein Herr und ältester Freund gegen ihn wäre. Und wer möchte schon Gejagter der Hölle sein? Schließlich war er der Jäger.
Lilith stöhnte enttäuscht auf und schaute zurück in die Flammen. Ihre Hände glitten über die glänzende Oberfläche des steinernen Quaders.
»Gott hat jemanden geschickt, um eine Nachfahrin unserer Blutlinie zu töten.« Sie flüsterte, als ob sie es nur sich selbst sagen wollte.
Er zog die Luft ein. »Damit würde Gott gegen das Gesetz verstoßen.«
Ein Gesetz, das bereits seit Jahrtausenden galt. Er überlegte, ob sie nach den Geschehnissen der letzten Jahrhunderte vielleicht verrückt geworden sei. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott gerade dieses Gesetz brechen würde.«
»Nennst du mich eine Lügnerin?« Lilith packte erzürnt nach seinem Hals, doch er drehte sich geschickt aus ihrem Griff heraus.
»Ich wollte dich nicht verärgern«, versuchte er sie zu besänftigen, »aber was du da behauptest, kann schwerwiegende Folgen haben. Ein direkter Angriff auf eine eurer Blutlinien würde deinen Gemahl bestimmt auch interessieren.«
Lilith beruhigte sich langsam. »Luzifer weiß es.«
Er kannte sie und seinen Herren lange genug, um zu wissen, dass Lilith ihm nicht die komplette Wahrheit sagte. Etwas stimmte nicht mit der Person, deren Tod Gott in Auftrag gegeben hatte. Ansonsten würde er niemals gegen das Gesetz verstoßen. Doch wenn Lilith etwas verschweigen wollte, dann tat sie das auch, und so musste er sich mit ihrer Version vorerst zufriedengeben.
Liliths Blick wirkte gefasst, als sie weitererzählte. »Ihr Name ist Layna. Sie studiert in Angels’ City Kunst. An der Universität wirst du sie finden. Ich habe sie ihr Leben lang beobachtet, aber mehr kann ich leider nicht tun. Gewinne ihr Vertrauen, beschütze sie und bringe sie zu mir. Das ist deine Aufgabe.«
»Was willst du mit ihr machen?«
»Das, mein schöner Engel, brauchst du nicht zu wissen.« Sie hatte ihr teuflisches Lächeln wiedergefunden und trat langsam zurück in den Schatten, aus dem sie gekommen war.
»Finde sie. Gewinne ihr Vertrauen. Pass gut auf meine Nachfahrin auf. Erledigst du deinen Auftrag zu meiner Zufriedenheit, werde ich dir deinen Wunsch erfüllen.«
Layna rannte über die feuchte Wiese des Unigeländes. Von den Bäumen fielen Regentropfen des letzten Gewitters herab und vermischten sich auf ihrer Stirn mit den Schweißperlen. Sie bekam Gänsehaut, wenn ein kalter Tropfen ihre warme Haut traf. Der Rucksack rutschte ihr ständig von der Schulter und ihre rotblonden Locken lösten sich allmählich aus dem Zopf. Doch sie hatte keine Zeit mehr, um die Frisur noch einmal zu richten. Hastig erklomm sie die Stufen des Gebäudes, das zu ihrem zweiten Zuhause geworden war. Sie kannte jede Bodenfliese, jede Schnitzerei der Holzvertäfelungen und jedes einzelne Gesicht auf den Fotos der ehemaligen Absolventen in den Glasvitrinen. Eines Tages würde auch ihr Foto in einem dieser Glaskästen hängen.
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