Die Studenten im Saal fingen an zu lachen und auch Tony konnte sich nicht zurückhalten. »Zeig mir ein Gemälde, auf dem ein hässlicher Engel abgebildet ist und der Teufel als gutaussehender Kerl.«
»Was ist mit Mephisto in Faust?«, verteidigte sich Layna. »Er wurde nicht als Monster, Dämon oder Schlange dargestellt. Er wickelte die Frauen um den Finger, was wohl nicht gegen sein Aussehen spricht.«
»Faust ist kein Gemälde.«
Layna holte Luft, um ihren Standpunkt weiter zu festigen, doch ein dreifacher, monotoner Ton aus den Lautsprechern gab das Ende der Vorlesung bekannt. Sofort sprangen alle Studenten von den Stühlen auf und packten ihre Sachen zusammen.
»Im Kunstmuseum ist eine neue Ausstellung eingetroffen! Ich lege Ihnen ans Herz, sich diese anzusehen. Es sind sehr interessante Werke vertreten!«, rief der Professor noch hinterher, während die Studenten bereits aus dem Saal stürmten.
»Da findest du bestimmt deinen hässlichen Engel und den sexy Teufel«, witzelte das Mädchen aus der letzten Reihe, als sie an Layna vorbeiging.
Tony hielt sie am Arm fest, denn er wusste, wie aufbrausend Layna werden konnte, wenn man sich über sie lustig machte oder sie das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. Er hatte sein Leben lang Zeit gehabt, sich an die extremen Gefühlsausbrüche seiner besten Freundin zu gewöhnen und hatte gelernt, wie er damit umgehen musste. Sie war für ihn wie eine Münze. Auf der einen Seite war sie die aufgekratzte, fröhliche und lustige Layna, aber auf der anderen Seite befand sich das absolute Gegenteil davon. Sie fuhr schnell aus der Haut, griff an, ohne nachzudenken und ohne Rücksicht auf andere. Eine Grauzone zwischen Schwarz und Weiß gab es bei ihr nicht. Und Tony ahnte, dass Layna in diesem Moment dabei war, sich auf die unberechenbare Seite zu drehen. Obwohl er es bewunderte, wie sie um etwas kämpfte, was ihr wichtig war, zog er selbst es vor, sich klein zu machen und im Hintergrund zu verschwinden. Er gab ihr liebend gern Rückendeckung, würde jedoch nicht mit ihr an der Front stehen. Dazu fehlte ihm einfach der Mut. Bereits in der Junior Highschool hatte er es verwunderlich gefunden, dass ein selbstbewusstes Mädchen wie Layna sich mit einem schüchternen Jungen wie ihm abgegeben hatte. Aber vielleicht war gerade dieser Unterschied der Grund, weshalb sie so gut zusammenpassten – als Freunde. An mehr hatte Tony zwar in seiner pubertären Phase gedacht, doch nachdem er sich damit abgefunden hatte, dass Layna niemals mehr für ihn empfinden würde, gab er sich mit einer Freundschaft zufrieden. Und diese hielt nun schon länger als jede Beziehung der beiden, was ihn wiederum stolz machte.
Gerade als Layna aus dem Saal treten wollte, wurde sie vom Professor zu einem Gespräch gerufen.
»Treffen wir uns bei Vicci?«, fragte Tony.
Sie nickte und trottete zu Williams.
»Miss Parker, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Ihre Leidenschaft etwas mehr auf Ihr Studium konzentrieren würden, als auf Ihre Freizeitaktivitäten«, fiel der Professor mit der Tür ins Haus. »Ich weiß, Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, aber Sie müssen langsam wieder anfangen, nach vorne zu schauen. Sie stehen kurz davor, dass ich Sie durch den Kurs fallen lassen muss.«
Layna schwieg und versuchte, die Gedanken, die Williams mit seinen Worten in ihren Kopf setzte, zu verdrängen. In den letzten Wochen hatte sie es geschafft, sich mit der Fotografie davon abzulenken und nun riss er ihre mühselig aufgebaute Mauer mit einem Schlag ein.
»So wie ich Sie einschätze, geben Sie sich mit all Ihrem Herzblut einer Sache hin. Ich habe Ihre Fotos vor einigen Tagen bei der Ausstellung kreativer Studenten gesehen. Es sind wirklich tolle Werke dabei. Jedoch befinden Sie sich hier in einem Kunststudium und nicht in einem Fotokurs. Das Wissen, das Sie hier erhalten, können Sie gerne in Ihre Fotos einfließen lassen, aber ich lege Ihnen ans Herz, sich mehr auf das Studium zu konzentrieren.«
Den restlichen Vortrag über Verantwortung und Zukunft nahm Layna nur noch als dumpfen Wortschwall wahr. In ihrem Kopf blitzten wild durcheinander gewürfelte Bilder auf, die sie bereits in die hinterste Schublade ihres Gedächtnisses geschoben hatte. Das Auto. Ihre Eltern. Auch der beißende Geruch nach verbranntem Plastik und Fleisch stieg in ihrer Nase auf. Ihr wurde übel von dem Gestank, den sie sich nur einbildete, und schwindelig von den Bildern vor ihren Augen. In weiter Ferne hörte sie, wie jemand ihren Namen sagte. Aber die Stimme war so weit weg, dass sie nicht nach ihr greifen konnte. Erst als der Professor sie an den Schultern packte und sie leicht schüttelte, kam Layna wieder zu sich.
Besorgt hielt er sie noch einen Moment fest, bevor er sie losließ und in seine Unterlagen blickte.
»Ich verstehe, dass Sie sich schlecht fühlen. Wer würde das nicht? Deshalb möchte ich Ihnen eine Chance geben, ihre Note in meinem Kurs zu verbessern. Gehen Sie in das Museum zur Ausstellung. Suchen Sie sich eines der Werke aus und schreiben Sie einen Bericht darüber. Fünftausend Worte. Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit dafür.« Er schaute aus seinen Unterlagen hinauf zu Layna und verschärfte den Blick. »Das ist Ihre allerletzte Chance, Miss Parker. Nutzen Sie sie.«
»Das werde ich«, antwortete sie mit schwacher Stimme, doch in ihrem Inneren schrie sie auf. Sie kam gerade so mit dem Studium und ihrem Leben zurecht und jetzt wurde ihr eine Zusatzaufgabe aufgedrängt.
Das Studium hatte ihr bis letztes Jahr keinerlei Schwierigkeiten bereitet, aber seit dem Unfall ihrer Eltern wurde es mit jedem Tag schwerer. Sie konnte sich kaum noch auf etwas konzentrieren, wenn sie kein Objektiv vor sich hatte. Vielleicht sollte sie das Studienfach wechseln, aber das würde ihr Tony übel nehmen, und mitten im Studium das Fach zu ändern, grenzte an Wahnsinn. Um ihren Traum einer eigenen Galerie zu verwirklichen, musste sie die Zähne zusammenbeißen und sich durch das Kunststudium quälen – koste es, was es wolle. Das wurde ihr in diesem Moment wieder einmal mehr bewusst.
Langsamer als am Morgen ging Layna die Flure des Universitätsgebäudes entlang zum Ausgang. Die Sonne blendete, als sie die Türen öffnete, und sie musste kurz die Augen zusammenkneifen. Die Hand schützend an der Stirn und den Blick auf den Boden gerichtet, trottete sie die Treppen hinab zu den Parkanlagen zwischen den Wohnhäusern. Studenten tummelten sich auf den Wiesen und Bänken, philosophierten in Gruppen über ihre Vorlesungen oder tratschten über die letzte Party. Studentenverbindungen versuchten, an Infoständen neue Mitglieder zu werben.
Layna war weder in einer Verbindung, noch hatte sie viele Freunde an der Uni. Sie wohnte mit Tony und Vicci in einer kleinen WG. Nichts Aufregendes, aber sie fand die Wohnung gemütlich und fühlte sich dort geborgen und sicher.
Vicci, die eigentlich Victoria hieß, war vor zwei Jahren in die WG eingezogen. Sie studierte nicht, aber da sie in einem Café auf dem Campus arbeitete, gehörte sie quasi mit dazu. Obwohl sie von einem eigenen Café träumte, wussten alle, dass sie bei dem winzigen Gehalt, das sie bekam, bis zu ihrem Lebensende sparen müsste, um es sich leisten zu können. Dieses Thema wurde jedoch höflich totgeschwiegen.
Als Layna am Café Picasso ankam, sah sie Tony schon von Weitem wild winken. Er hatte also noch einen freien Platz gefunden. Am Vormittag war das eine Seltenheit, da sich die Studenten dort trafen, um zu frühstücken oder sich die Zeit bis zur nächsten Vorlesung zu vertreiben. Doch Vicci hatte immer ein waches Auge auf den Stammplatz ihrer Mitbewohner und so waren schon oft Gäste des Tisches verwiesen worden, damit Layna und Tony einen Platz bekamen. Das kleine Café lag idyllisch zwischen einigen Ahornbäumen, die den Tischen im Außenbereich genügend Schatten spendeten. Unter einem dieser Bäume setzte Layna sich neben Tony und ließ den Kopf auf den Tisch knallen.
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