In diesem Augenblick spazierte Vicci zur Tür herein und hielt eine große Pizzaschachtel in den Händen.
»Hey, Lay! Ich habe uns Abendessen besorgt. Eine Partypizza! Eine Hälfte mit Salami für dich und eine Hälfte mit Thunfisch für mich.« Als sie die Schachtel auf den Küchentresen ablegte, fiel ihr Blick auf die Küche und das Wohnzimmer. »Hier blitzt es aber. Wurdest du vom Putzteufel gebissen?«
Layna lachte. Es tat gut, dass Vicci sie von ihren Gedanken ablenkte. Dennoch blieb ihr Entschluss, in der Frühe zum Museum zu fahren. Und dieses Mal würde sie zwei Stufen auf einmal nehmen und nicht stehenbleiben.
Leichte Schleierwolken bedeckten den Himmel und ließen die Sonnenstrahlen auf der Treppe des Museums tanzen. Der Wind war frisch und es lief Layna noch kälter den Rücken hinunter. So positiv und motiviert, wie sie am Abend zuvor gewesen war, stand sie der Sache nun nicht mehr gegenüber. Sie wartete bereits einige Minuten auf den Schubs, der sie den ersten Schritt machen lassen sollte. Wie würde es weitergehen, wenn dieser Schubs nie kam? Sie wusste, dass sie diejenige war, die diesen Schritt tun musste, und dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand hielt.
Vorsichtig trat sie auf die erste Stufe, hielt die Luft an und stellte fest, dass nichts Schlimmes passiert war. Am Vortag war sie immerhin fast oben angekommen. Erneut atmete sie tief ein und rannte die Treppe hinauf. Zwei Stufen auf einmal – genauso, wie sie es sich vorgenommen hatte.
Oben angelangt, zwang heftiges Seitenstechen Layna in die Knie. Hechelnd drückte sie ihre Hände gegen die Rippen und blickte ängstlich in das schwarze Maul, das immer noch nach ihr schnappen wollte. Sie hockte sich an eine der Säulen, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem, um das Stechen zu bekämpfen. Sie wischte die kleinen Schweißperlen aus ihrem Nacken und band die langen Haare zu einem Zopf zusammen.
Vorsichtig spähte sie in den Eingangsbereich. Sie erkannte eine Schulklasse, die sich an die Kasse drängte, und Plakate, die für die Ausstellung warben. Dort war nichts, wovor sie sich hätte fürchten müssen. Allein vor ihren Gedanken hatte sie Angst; sich daran erinnern zu müssen, wie sie mit ihren Eltern dort gewesen war.
»Hast du dich doch dazu durchgerungen, hineinzugehen?«
Layna schreckte hoch und sah in Mikes braune Augen. »Verfolgst du mich?«, fragte sie verwirrt und ärgerte sich sofort, dass sie erneut so patzig war.
»Mein Büro ist gleich um die Ecke. Als ich vorbeigekommen bin, habe ich gesehen, wie du die Treppe hinaufgerannt bist. Ich wollte nur nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.«
Nun hatte sie erst recht ein schlechtes Gewissen. Er war hilfsbereit und sie blaffte ihn an. Entschuldigend lächelte sie ihn an, hatte aber das Gefühl, eine Fratze zu schneiden.
»Kann ich dir aufhelfen?«, fragte Mike und hielt ihr seine Hand hin. Mit Leichtigkeit zog er sie hoch und stellte sie auf ihre Füße.
»Sorry wegen gestern. Und wegen eben«, sagte Layna leise. »Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dich noch einmal zu sehen.«
»Eine schöne Frau wie du braucht sich bei mir nicht zu entschuldigen. Ich für meinen Teil habe gehofft, dass ich dich wiedersehen werde.«
Layna wurde rot und senkte den Blick. Mit Komplimenten konnte sie nicht umgehen. Sie bekam zu selten diese offensiven Bekundungen. Wie sollte sie da reagieren? Sollte sie sich bedanken? Sollte sie besser gar nichts sagen? Sollte sie eines zurückgeben? Layna entschied sich für die Variante des Schweigens.
»Wenn du willst, können wir immer noch zusammen in die Ausstellung gehen.« Er legte den Kopf schief und schaute sie erwartungsvoll an.
»Musst du nicht arbeiten?«
Mike war zwar lässig gekleidet, mit Jeans und weißem Hemd, aber wenn er auf dem Weg zu seinem Büro war, hielt sie ihn bestimmt von der Arbeit ab.
»Das kann warten. Ich würde jetzt viel lieber etwas Zeit mit dir verbringen und dich kennenlernen. Natürlich nur, wenn du willst.«
Ein gutaussehender Mann, der seinen Job liegen lässt, um mit ihr ins Museum zu gehen. Wie sollte Layna da Nein sagen können?
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, sie zu begleiten. Gemeinsam gingen sie zum Eingangsbrereich. Doch als sie eintraten, wurde Layna auch schon von ihrer Vergangenheit überwältigt. Abrupt blieb sie stehen, rührte sich keinen Millimeter und ließ den Blick durch die Eingangshalle schweifen. Sie erkannte das große Hologramm der Weltkugel, an der ihr Vater ihr alle Länder erklärt hatte. Lichter blinkten an verschiedenen Orten auf, wenn Kinder den Namen auf einem Display berührten. Zusammen mit ihrem Vater hatte sie sich eine Lichtersymphonie ausgedacht, die sie gemeinsam spielten, indem sie um die Weltkugel liefen und die Städtenamen drückten. Sie kannte immer noch die Reihenfolge der Städte im Lied, doch alleine konnte sie es nie wieder spielen.
Mike legte seine Hand auf ihre Schulter. Ein warmer Schauer durchfuhr sie. Langsam beruhigte Layna sich, holte tief Luft und trat zur Kasse. Ihr Begleiter bestand darauf, sie einzuladen, was ihn noch sympathischer machte. Zusammen gingen sie in den ersten Raum, in dem große abstrakte Skulpturen ausgestellt wurden. In der Mitte befand sich das größte Werk, auf das Layna direkt zuging: eine männliche Figur, die aus verschiedenen verrosteten, metallischen Gegenständen zusammengebaut war. Er hockte zusammengekauert auf einem hohen Podest, eine Hand auf sein Herz gelegt. Riesige Schwingen ragten aus dem Rücken und berührten fast die Decke des Museums. Der Titel des Werkes war in das Podest gemeißelt: Gefallen.
Layna stellte sich vor die Figur und betrachtete sie lange. In ihr wuchsen Trauer, Mitleid und das Bedürfnis, den Mann zu umarmen und zu trösten. Er schien einen leidenden, traurigen Gesichtsausdruck zu haben, soweit sie es erkannte. Gegen das Verbot, die Werke zu berühren, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und berührte die Hand, die auf dem Herzen lag. Roststaub rieselte herab, als ihre Finger leicht über das Metall glitten.
»Ein gefallener Engel. Mit dem musst du kein Mitleid haben«, sagte Mike mit überraschend ernster Stimme.
»Wie kommst du darauf, dass es ein gefallener Engel ist? Vielleicht trauert er um jemanden, der im Dritten Weltkrieg gefallen ist.«
Mike schüttelte den Kopf und deutete auf die kleine Tafel neben dem Podest. Auf ihr standen der Künstler und ein Bericht zu dem Kunstwerk. Die ersten drei Worte des Textes lauteten: Der gefallene Engel.
»Hm …« Der Gesichtsausdruck und die Geste der Statue zeigten, dass sie Schmerz empfand und trauerte. »Er leidet richtig«, sagte Layna und nahm die Hand zurück. Ihre Fingerspitzen waren ganz rot vom Rost.
»Das hat er sich doch selbst ausgesucht. Ein Engel fällt nur, wenn er sich dazu entschließt, den Himmel zu verlassen.«
Layna erinnerte sich an das Gemälde in der Vorlesung und an den Krieger, der die Monster mit seinem Flammenschwert aus dem Himmel vertrieb. Vielleicht litten die Ungeheuer genauso wie der gefallene Engel. Vielleicht waren sie nur eine übertriebene Darstellung. Zu Monstern gemacht von denen, die sich hintergangen fühlten.
»Niemand sollte leiden. Egal, ob Engel oder Mensch. Was er auch getan hat, weshalb der Himmel ihn verstieß, jeder hat eine zweite Chance verdient. Gerade Gott sollte doch verzeihen können.«
Mike stand direkt hinter ihr. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. »Du hast ein gutes Herz, Layna«, flüsterte er. »Pass nur auf, dass du nicht über die Falschen urteilst.« Er nahm ihre Hand und zog sie in den nächsten Raum, weg von dem Engel.
An den Wänden hingen Fotografien aus verschiedenen Epochen. Angefangen von Fotos, die mit einer Lochkamera gemacht wurden, über Spiegelreflexbilder bis hin zu Fotos von modernen Lichtfeldkameras. Alle möglichen Motive waren vertreten, doch Layna steuerte direkt auf die Wand mit den Porträtaufnahmen. Völlig in ihrem Element, merkte sie erst gar nicht, dass Mike sie beobachtete. Erst, als sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend spürte, bemerkte sie seine Blicke.
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