Layna hechtete den langen Flur entlang, ihre Schuhe quietschten auf dem blank polierten Fußboden, und fast wäre sie wegen der nassen Sohlen ausgerutscht. Als sie eine große Holztür erreichte, atmete sie noch einmal tief ein, strich die Locken nach hinten und wischte die Schweißperlen von der Stirn. Langsam öffnete sie die Tür, um sich möglichst unauffällig durch die Sitzreihen auf ihren Platz zu mogeln. Professor Williams zitierte gerade aus einem Buch, den Blick starr auf die Seiten gerichtet. Sie hatte einen guten Moment erwischt. So leise wie möglich setzte sie sich auf den Stuhl und packte ihre Bücher auf den Tisch.
»Du bist viel zu spät«, flüsterte Tony ihr ins Ohr.
Als ob sie das nicht selbst wüsste. Tony war Laynas Sitznachbar und ihr bester Freund, seit sie denken konnte. Sie waren in derselben Nachbarschaft aufgewachsen, zusammen zur Schule gegangen und nun bestritten auch das Kunststudium gemeinsam. Layna war froh, einen Menschen zu haben, auf den sie sich blind verlassen konnte. Doch es gab Augenblicke wie diesen, in denen sie ihm liebend gern seine walnussbraunen Haare durchwuscheln würde – in der Hoffnung, er könnte etwas lockerer werden. Tony war seit jeher ein kleiner Streber, was ihr in der Schule aus mancher Notlage geholfen hatte.
»Das Licht am Hafen war der Wahnsinn! Da konnte ich nicht einfach weggehen. Die Fotos sind bestimmt super geworden«, versuchte Layna sich für ihr Zuspätkommen zu rechtfertigen.
»Der Professor wird dich durchfallen lassen, wenn dir das noch häufiger passiert.«
»Mensch, Tony, du kannst einem aber auch alles mies reden!« Layna schob die Unterlippe vor und bemerkte erst jetzt, dass Williams seinen Vortrag unterbrochen hatte und sie anvisierte.
»Wenn Miss Parker dann soweit wäre, würde ich gerne fortfahren.« Seine sonst so freundliche Stimme klang recht hart und Layna wusste, dass sie sich diese Woche nichts mehr erlauben sollte.
Die Vorlesung zog sich wie Gummi, während sie in ihren Gedanken noch immer bei dem wundervollen Sonnenaufgang am Pier war. Das Orange der Sonne hatte sich langsam mit dem Azurblau des Himmels und dem Türkis des Meeres gemischt und ein atemberaubendes Lichtspiel auf die Gesichter der anwesenden Menschen gezaubert. Sie liebte es, sie zu fotografieren, wenn sie gedankenverloren auf den Ozean blickten, einen Kaffee tranken oder sich unterhielten. Solche Motive strahlten für sie Ruhe und Harmonie aus. Gerade der Pier hatte etwas Außergewöhnliches an sich. Er wirkte wie eine Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Layna hatte darüber in Geschichtsbüchern gelesen: über die Flut, die Amerikas gesamte Westküste überschwemmt hatte. Millionen Menschen waren dadurch vor hundert Jahren ums Leben gekommen. San Francisco und San Diego existierten nur noch auf dem Meeresgrund. Auch Los Angeles war zerstört worden. Doch die Menschen ließen sich nicht unterkriegen und bauten die Städte an der neuen Küste wieder auf. Los Angeles, die Stadt der Engel, wurde voller Hoffnung in Angels’ City umbenannt – die Stadt, in der Layna seit ihrer Geburt lebte. Sie kannte weder Los Angeles, noch hatte sie die erste Zeit nach der Flut miterlebt. Doch der Gedanke, dass sich direkt vor ihren Füßen unter dem Wasserspiegel eine verschollene Stadt verbarg, ließ sie erschaudern. Familien waren auseinandergerissen oder komplett ausgelöscht worden. Sie wusste, wie sich der Verlust eines geliebten Menschen anfühlte, und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie verzweifelt die Menschen damals gewesen sein mussten.
Politiker gaben dem Klimawandel die Schuld für die Flut. Weltweit wurde die Energieversorgung umstrukturiert, um den Planeten zu entlasten. Wind- und Solarparks wurden in Massen errichtet und die Ölförderung schlagartig minimiert, was das Ende der meisten Verbrennungsmotoren bedeutete. Automobile und Motorräder wurden seitdem mit Elektromotoren angetrieben, Züge fuhren magnetisch. Die Erde konnte durchatmen.
Mittlerweile waren die neuen Küstenstädte zu beliebten Touristenzielen geworden. Solch junge und große Metropolen gab es nur an der amerikanischen Westküste, und die versunkenen Städte boten den Tauchern fantastische Ziele. Das Gute an den Touristen war, dass sie nicht nur Geld in die Kassen brachten. Sie boten Layna auch eine vielfältige Anzahl an Fotomotiven: alte und junge Menschen, Afroamerikaner, Chinesen, Europäer. Nirgendwo anders fand sie so viele unterschiedliche Persönlichkeiten als am Pier.
Layna war gerade dabei, mit ihren Gedanken noch weiter abzuschweifen, als Tony ihr einen heftigen Stoß in die Rippen gab.
»Autsch! Spinnst du?«
Tony deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Professors. Layna blickte nach vorn und betrachtete das Gemälde, das auf die große Leinwand projiziert wurde. In der Mitte befand sich ein Krieger, der sich drohend über einer wilden, dämonenähnlichen Kreatur aufrichtete. Mit der rechten Hand hob er ein Schwert, dessen Klinge Blitzen oder Flammen ähnelte. Er war bereit zum Schlag, während er mit der linken Hand einen runden Schild schützend vor seinen Körper hielt. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie die weißen Schwingen des Kriegers, um die sein roter Umhang wehte. Neben ihm gab es noch weitere Figuren mit Flügeln, die zwar weniger kriegerisch gekleidet waren, aber auch mit Schwertern und Lanzen die wilden Kreaturen unterwarfen. Hoch über dem Geschehen wachte ein alter Mann mit langem, weißem Bart auf einem Thron aus Wolken.
Während Layna das Gemälde betrachtete und sich die Gesichter einzuprägen versuchte, bekam sie ein mulmiges Gefühl. Das war kein friedliches Bild. Es war eine Kriegsszene. Sie hatte schon oft Kriegsszenen auf Gemälden gesehen, dennoch zog diese sie auf eine unheimliche Art an und bereitete ihr gleichzeitig Magenschmerzen.
Der Professor hob die Brauen und blickte abwechselnd zur Projektion und zu Layna. »Haben Sie meine Frage verstanden, Miss Parker?«
Sie schüttelte den Kopf.
Williams schnaufte genervt. »Ich fragte, von wem dieses Gemälde ist, wann es gemalt wurde und wie es genannt wird.«
Layna zuckte nur mit den Schultern, den Blick immer noch auf den kriegerischen Engel gerichtet.
»Das Gemälde ist von Rubens«, warf Tony ein. »Es entstand um 1619 und wird Engelsturz genannt. Gezeichnet wurde es mit Öl auf Leinwand.«
Der Professor nickte zufrieden und wandte sich an alle Studenten. »Was genau ist darauf zu sehen?«
Ein Mädchen aus der hinteren Reihe meldete sich: »Es zeigt, wie Erzengel Michael den Teufel aus dem Himmel vertreibt.«
»Und was denken Sie, wenn Sie diese Situation betrachten?«
»Geschieht ihm recht«, antwortete das Mädchen. »Der Teufel wollte sich gegen Gott auflehnen, ihn übertrumpfen. Dafür hat er seine gerechte Strafe bekommen, indem man ihn aus dem Himmel gejagt hat. Wer sich nicht an die Regeln hält, muss eben gehen.«
Layna starrte noch immer auf das Gemälde. Sie fühlte sich plötzlich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite stimmte sie ihrer Kommilitonin zu, doch auf der anderen Seite konnte sie ihre Gefühle nicht richtig zuordnen. Sie schüttelte den Kopf.
»Sie sind anderer Meinung, Miss Parker?«, riss der Professor sie erneut aus ihren Gedanken.
»Ich, ähm …« Layna suchte nach passenden Worten, die ihr Gefühlschaos beschrieben. »Ich bin nicht anderer Meinung. Ich bin geteilter Meinung. Sicher, der Teufel hätte sich an die Regeln halten sollen. Sie wurden schließlich aufgestellt, um für Ordnung zu sorgen. Aber warum hat er sich gegen sie und Gott gestellt? Dafür muss es ja einen Grund gegeben haben. Und warum sitzt Gott hoch oben auf seinem Thron und überlässt Michael die ganze Arbeit? Der Teufel hat sich doch gegen Gott gerichtet. Warum schmeißt er ihn nicht selbst raus? Und war der Teufel wirklich das dermaßen schreckliche Monster, als das er dargestellt wird? Engel sind immer so wunderschön gezeichnet. Wer weiß, ob es nicht auch hässliche Engel gibt?«
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