»So schlimm?«
»Schlimmer«, nuschelte Layna. »Ich muss einen Aufsatz schreiben.«
»Worüber?«
Sie hob den Kopf und stützte ihn mit der Hand ab. »Ich soll mir im Museum ein Werk aussuchen und darüber schreiben. Fünftausend Wörter.«
»Wenn ich dir helfen kann, musst du es nur sagen.«
Layna gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke, aber ich glaube, da muss ich dieses Mal allein durch. Sozusagen als Therapie. Ich soll und muss mich wieder auf die Kunst konzentrieren, sonst bestehe ich den Kurs nicht.«
Mitfühlend legte Tony den Arm auf ihre Schultern. Er wusste, was seine Freundin durchmachen musste, denn er stand ihr in dieser schweren Zeit zur Seite. Obwohl er sich dabei machtlos und fehl am Platz vorkam, sagte sie ihm immer wieder, wie froh sie war, ihn bei sich zu haben. Schließlich hatte sie nur noch ihn. Die Ereignisse hatten sie fester zusammengeschweißt, und wenn sie sich jemandem vorstellten, so waren sie Geschwister.
»Na, ihr Hübschen!«, grüßte Vicci. Während sie zwei Latte macchiato auf den Tisch stellte, fiel ihr Blick auf ihre Freundin. »Lay, ist dir was über die Leber gelaufen?«
Layna griff nach ihrem Getränk. »Professor Williams«, antwortete sie mürrisch.
»Ach, der! Der Alte ist immer so geizig beim Trinkgeld. Lass dich nicht von ihm ärgern, Süße! Ich muss weitermachen. Hier ist die Hölle los. Wir sehen uns heute Abend!«
Mit einem breiten Lächeln wirbelte Vicci herum und lief geschickt zwischen den eng stehenden Tischen ins Café. Ihre kurzen blonden Haare schimmerten im Sonnenlicht wie Gold und auch sonst war Vicci eine strahlende Persönlichkeit, was Layna sehr an ihr mochte. Wenn sie den Raum betrat, ging die Sonne auf. Es konnte noch so eine miese Stimmung herrschen, sie wusste, wie man sie in gute Laune umwandelte. An Abenden, an denen Layna sich schlecht fühlte, war sie ihr ein verlässlicher Rettungsanker.
Tony nippte an seinem heißen Kaffee. »Gehst du heute zur Ausstellung?«
Layna seufzte. »Bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig.«
»Soll ich mitkommen?« Er sah sie besorgt an. Er wusste, was es für sie bedeutete, auch nur in die Nähe des Museums zu gehen.
Sie schüttelte den Kopf. Es war Dienstag und Tony hatte seinen Astronomiekurs. Das wollte sie ihm nicht verderben, denn er freute sich seit Tagen auf dieses Treffen. Sie fragte sich jedoch, was daran so aufregend war, tagsüber Theoretisches über die Planeten zu lernen und abends in den Himmel zu starren. Was sollte man dort schon sehen? Grüne Marsmännchen bestimmt nicht.
Sie beteuerte Tony, dass sie sich nicht lange aufhalten werde, sondern schnell eines der Ausstellungsstücke aussuchen würde, über das sie schreiben wollte. Anschließend wollte sie die Fotos vom Morgen sortieren, um wenigstens einen kurzen Moment mit ihren eigenen Bildern zu verbringen, bevor sie einen Aufsatz über andere Werke verfassen musste.
Layna löffelte ihren Kaffee und beobachtete die Leute. Sie ärgerte sich, dass sie die Kamera nicht dabei hatte, und beschloss, sie in Zukunft zur Uni mitzunehmen. Ihr Blick blieb an einem jungen Mann hängen, dem sie noch nie im Café begegnet war. Sie kannte die meisten Gäste, da sie jeden Tag mindestens einmal bei Vicci vorbeischaute, doch dieses Gesicht war ihr fremd. Er trank einen Espresso, während er auf einem der transparenten Tablets las, die man sich im Café ausleihen konnte, um im Internet zu surfen. Die schulterlangen blonden Haare hatte er hinter die Ohren geklemmt. Seine Gesichtszüge waren männlich, aber zugleich sinnlich. Layna fiel es schwer, sein Alter einzuschätzen. Vielleicht war er ein oder zwei Jahre älter als sie. Sie konnte nicht genau deuten, was es war, aber sein Anblick fesselte sie. Dieser Mann war der attraktivste, den sie seit langer Zeit gesehen hatte. Als er Layna über das Tablet hinweg mit seinen braunen Augen ansah, zuckte sie erschrocken zusammen. Beinahe hätte sie dabei ihr Glas umgekippt. Schüchtern senkte sie den Blick und schaute verlegen in eine andere Richtung. Als sie sich wieder traute, zu ihm zu schauen, konzentrierte er sich wieder auf das Tablet.
»Du sabberst gleich«, flüsterte Tony ihr zu.
»Quatsch!« Layna boxte ihm gegen die Schulter, peinlich berührt, dass er sie ertappt hatte.
»Geh doch mal hin und frag, was er so Spannendes liest.«
Layna verdrehte die Augen. »Ich gehe jetzt zur Ausstellung. Das wird mir zu albern mit dir.« Sie gab Tony einen Kuss auf die Wange und stand auf. Aber einen letzten Blick auf den Fremden konnte sie sich nicht verkneifen, bevor sie um die Ecke des Cafés bog.
Das Museum war einige Meilen entfernt, was bedeutete, dass sie bei der WG vorbeischauen musste, um ihr Fahrrad zu holen. Mit der Magnetbahn oder dem Bus zu fahren, war unmöglich für sie. Seit dem Unfall ihrer Eltern hatte sie in keinem Auto mehr gesessen und fuhr auch nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, obwohl dieser Umstand einiges komplizierter machte. Besonders, wenn sie mit mehreren Personen unterwegs war. Doch mittlerweile akzeptierten diejenigen, die Laynas Angst kannten, ihre Entscheidung. Außerdem trainierte sie so ihre Kondition und hatte durch das viele Radfahren und Laufen eine sportliche Figur bekommen.
Das Hochhaus, in dem die drei Freunde in einer der oberen Etagen wohnten, war ein schlichtes Gebäude, das beim Wiederaufbau der Stadt sehr schnell errichtet worden war, um Wohnungen zu schaffen. Layna schnappte sich ihr Rad, das sie verbotenerweise immer im Eingangsbereich abstellte, und radelte entlang der Wolkenkratzer, die sich meilenweit aneinanderreihten. Die weißen Fassaden mit den eingelassenen Balkonen wirkten wie ein riesiger Lamellenvorhang, hinter dem eine andere Welt verborgen lag.
Schließlich bog sie ins Zentrum von Angels’ City ein. Aufgrund der vielen Menschen war dort kaum ein Vorankommen mit dem Rad möglich, also schob sie es den restlichen Weg über die Main Street hinunter zum Museum. Die Main Street bestand aus gläsernen Hochhäusern, in deren unteren Stockwerken Geschäfte, Ärzte und alle denkbaren Dienstleistungen zu finden waren. Darüber lagen Büros und Wohnungen der gehobeneren Gesellschaft. Auf den Dächern und an den Fassaden befanden sich Solaranlagen, um den Strom für die Häuser zu produzieren. In der Mitte der Straße verlief die Spur der Magnetbahn, die beinahe geräuschlos an den Elektrofahrzeugen vorbeirauschte. Alles wirkte modern und steril.
Das Museum jedoch hatte man im Stil eines griechischen Tempels errichtet. Dieser Kontrast war es, den Layna so sympathisch fand. Früher war sie gern dorthin gegangen. Mit ihren Eltern hatte sie fast jedes Wochenende das Museum besucht. Nun musste sie sich ihrer Vergangenheit stellen und das erste Mal seit dem Unfall die Treppen hinauf in das Museum gehen.
Sie stellte das Rad an einer Mauer ab, ohne es abzuschließen. Langsam betrat sie die unteren Stufen der riesigen Treppe. Auf ihr reihten sich gigantische Säulen aneinander. Der Eingang in der Mitte wirkte auf sie wie ein schwarzes Maul, das sie verschlingen wollte. Ihr Herz klopfte wild. Die Hände wurden feucht. Was tat sie bloß? War sie schon bereit dafür? Bereit, einen Schritt nach vorne zu gehen, ohne zurückzublicken? Layna blieb stehen und atmete tief ein. Sie versuchte, sich zu beruhigen, doch in ihr wuchs die Panik. Hätte sie doch nur Tony mitgenommen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und verfluchte Professor Williams dafür, dass er sie zu so etwas zwang.
»Ach, scheiß drauf!«, fluchte sie. Sollte der Professor sie doch durchfallen lassen. Dann würde sie das Semester eben noch einmal machen. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sie einfach keine Kraft, in dieses Museum zu gehen. Sie kehrte um und ging ein paar Stufen hinunter.
Aber wenn sie ein Semester wiederholen müsste, wäre sie nicht mehr mit Tony zusammen. Sie hätte Monate ihres Lebens einfach weggeworfen und würde sie niemals zurückbekommen. Ihre Eltern hatte sie bereits verloren, sollte sie nun auch ihr eigenes Leben verlieren? Ihre Zukunft und ihre Träume?
Читать дальше